Jeder Millimeter zählt in den verstopften Straßen von Delhi: Rückt einer vor, zieht der nächste im selben Augenblick nach. Vollbesetzte Fahrrad- und Autorikschas, Zweiräder und Busse, überladene Karren, Trucks, Taxis und Autos drängen sich so dicht aneinander, dass kein Fuß dazwischen passt. Wird eine Lücke frei, gilt: Wer am lautesten hupt, gewinnt.
Nur wenige Kilometer südlich, am Stadtrand der 18-Millionen-Metropole, fühlt man sich auf einen anderen Planeten gebeamt: Hier beginnt der Yamuna Expressway, die erste moderne Autobahn in ganz Indien. Anfang August wurde die 165 Kilometer lange, durchgehend sechsspurige Mautstrecke nach Agra eröffnet - und niemand benutzt sie.
Nur vereinzelt flitzen Autos und Lkws vorbei, manchmal queren Bauern und Hunde die Trasse. Ansonsten herrscht gähnende Leere - ein gespenstischer Anblick in einem Land, dessen Straßen und öffentliche Verkehrsmittel aus allen Nähten platzen. Womöglich müssten sich die Vorteile einer richtigen Autobahn erst herumsprechen, heißt es. Vielleicht ist einfach die Maut (320 Rupien oder 4,20 Euro) zu teuer.
Dabei ist das derzeitige Verkehrschaos nur ein Vorgeschmack: Erst 18 von 1000 Indern besitzen laut einem Branchenbericht der Wirtschaftskammer ein Auto (in Österreich kommen 540 Autos auf 1000 Einwohner), jährlich steigt allein in Delhi die Zahl der Neuzulassungen um 30 Prozent. An den Ausläufern der Ballungszentren kann man Appartmenthäusern, Bürotürmen und Shopping Malls förmlich beim Wachsen zusehen, immer mehr Menschen treibt es in die Städte.
Software-Eldorado
Indien, das ist für viele das neue China, ein Zukunftsmarkt mit einer erstarkenden Mittelschicht. Eine Armada an billigen Arbeitskräften, ein Eldorado für die Software-Industrie. Abseits der Slums, der schlechten Straßen und der völlig verarmten Landbevölkerung haben sich glitzernde Hightech-Enklaven samt abgeschotteter Residenzen und höchster Standards gebildet. Eine umstrittene weitere Öffnung der Wirtschaft für Auslandsinvestitionen soll den derzeit schwächelnden Boom am riesigen Subkontinent langfristig beflügeln, ebenso wie Forschung und neue Technologien.
Um österreichisches Know-how zu bewerben und wissenschaftliche wie wirtschaftliche Bande zu vertiefen, reiste vergangene Woche eine Delegation rund um Verkehrsministerin Doris Bures, Forschungsratschef Hannes Androsch und WKO-Vizepräsident Christoph Matznetter nach Neu-Delhi. DER STANDARD nahm auf Einladung des Austrian Institute of Technology (AIT) teil. Die indische Regierung verfolgt ambitionierte Pläne: Bis 2017 soll eine Billion Dollar, sprich 1000 Milliarden, aus öffentlichen und privaten Mitteln in den Ausbau der Infrastruktur fließen, in Straßen, U-Bahnen, Eisenbahnen, Häfen und Flughäfen. Ganze Städte sollen am Reißbrett entstehen.
Heimische Technologien sind durchaus gefragt, wie mehrere Abkommen zwischen Bures und ihren Amtskollegen zeigten. Die Konzepte für künftige " Smart Cities" soll das AIT liefern: Bei einem Besuch beim indischen Minister für urbane Entwicklung, Kamal Nath, wurde eine Kooperation zwischen AIT und dem National Institute of Urban Affairs vereinbart. Zunächst, um zwei Musterstädte zu definieren, in denen die gesamte Infrastruktur - von intelligenten Verkehrssystemen, nachhaltiger Wasser- und Energieversorgung, effizienter Gebäudetechnologie bis hin zu Breitband-Internet und Müllentsorgung - ganzheitlich geplant wird.
"Ziel ist es, in jedem der 28 Bundesstaaten zwei Smart Cities zu errichten", sagte Nath nach den Gesprächen. Die Zahl der Menschen, die in Städten leben, würde sich von derzeit 400 Millionen auf 600 Millionen in zehn Jahren erhöhen, die Zahl der Städte mit über einer Million Einwohnern könnte dann von 30 auf 70 steigen.
Greentech und Blackout
"Wir entwickeln aufgrund von vernetzten Daten die wissenschaftlichen Tools, die es den Entscheidungsträgern erlauben, die Stadt als Gesamtsystem zu sehen", erklärt Brigitte Bach, Leiterin des Energy-Departments am AIT. Es gehe darum, eine Vision zu diskutieren und schrittweise umzusetzen, um letztlich den Grundstein für besser funktionierende, CO2-neutrale Städte zu legen, sagt Bach, die bereits seit 2010 an Konzepten für zwei chinesische Städte arbeitet.
Wie lange es dauert, bis Indien bereit für grüne Technologien ist, wird sich zeigen. Noch hat der International Energy Agency zufolge jeder dritte Inder keinen Zugang zu Elektrizität. Die wild wuchernden Knäuel von angezapften Stromleitungen in den Städten sprechen für sich, ebenso wie großflächige Stromausfälle. Erst im Juli erlebten 600 Millionen Menschen das größte Blackout in der Geschichte Indiens. Das Defizit von 15 Prozent bei der Stromerzeugung soll durch eine massive Aufstockung der Atomkraftwerke ausgeglichen werden.
Smart-City-Konzepte müssten natürlich an die technologischen, klimatischen und sozialen Rahmenbedingungen in Indien angepasst werden, räumt AIT-Geschäftsführer Wolfgang Knoll ein: "Statt der Cadillac-Version ist vielleicht eine VW-Lösung, die bei einem niedrigen Preis noch immer einen hohen Effekt für Klima und Lebensqualität hat, sinnvoller."
Die Expertise zu den lokalen Bedingungen könnte das India Institute of Technology (IIT) in Delhi liefern, mit dem das AIT bei einem Besuch Anknüpfungspunkte suchte, insbesondere was gemeinsame Forschungsschwerpunkte wie erneuerbare Energien und Mobilitätskonzepte betrifft. Das IIT, das bereits in Sachen Informatik mit der deutschen Max-Planck-Gesellschaft kooperiert, ist exemplarisch für ein extrem selektives Ausbildungssystem: Von 300.000 Bewerbern im Jahr werden gerade 6000 oder zwei Prozent aufgenommen.
"Es ist sehr schwer, qualifizierte Ingenieure zu finden", bestätigt Markus Feichtner, Geschäftsführer von AVL India. Der steirische Motorenentwickler hat schon vor 28 Jahren eine Niederlassung in Gurgaon, einer wohlhabenden Satellitenstadt südlich von Delhi, gegründet, um den indischen Markt mit billigen Motoren und Bauteilen zu versorgen. Seit 2002 gibt es ein Techcenter, die wesentliche Forschungsarbeit passiert aber in Graz. Die Software-Designs aus Österreich werden dann von indischen Programmierern angepasst.
Der Weg von einer verlängerten Werkbank zur angestrebten Wissenssupermacht ist noch ein weiter. Laut einem Bericht der "Times of India" verfügt nur zwei Prozent der indischen Jugend über eine Fachausbildung, die Hälfte der Schüler bricht nach der Unterstufe die Ausbildung ab. Den untersten Kasten bleibt praktisch jeglicher Zugang zu Bildung verwehrt, während eine kleine Elite die oft von Firmen gesponserten Top-Unis absolviert. Auch instabile politische Verhältnisse, eine verkrustete Bürokratie und die weit verbreitete Korruption trüben noch die Aufbruchsstimmung - die ganz deutlich in der Luft liegt. (Karin Krichmayr, DER STANDARD, 10.10.2012)