Hardy Hanappi: "Wir leben stark von der Vergangenheit - vom Ruf her. Daher muss man Wissenschaftern aus aller Welt in Österreich und in ganz Europa ein intellektuelles Reizklima bieten, wo es viel Austausch und viel Neues zu erfahren gibt. Ich nenne es 'Pilotprojekt Europa'."

Foto: privat

"Zugangsbeschränkungen sind schlecht", sagt Hardy Hanappi, Professor am Institut für Wirtschaftsmathematik der TU Wien. Er plädiert für einen freien Uni-Zugang und hat Anfang der 70er Jahre selbst das breite Studienangebot ausgenutzt. Einstige Studienkollegen Hanappis finden sich heute in der Politik wieder, zum Beispiel Renate Brauner, Wiener Vizebürgermeisterin, und Peter Pilz, Nationalratsabgeordneter der Grünen. "Die Studenten sind heute mehr 'streamlined'", sagt Hanappi. "Sie haben gelernt, brav zu sein."

Hanappi ist Professor für Ökonomie und Wirtschaftsinformatik. Für Europa nennt er als Ausweg aus der Krise, sich auf die Ausbildung und Demokratisierung der Menschen zu konzentrieren: "Wenn wir unseren Platz finden wollen, müssen wir uns auf die Wissensproduktion stürzen." Er kann sich Europa als eine Art riesige Gelehrtenrepublik vorstellen. Warum er eine inhaltliche Studienreform fordert, den Einfluss von Uni-Rankings und Wissenschaftsmagazinen als "Sudoku-Economics" bezeichnet und wieso Österreich der Verlust der jüdischen Gelehrten vor und während des Zweiten Weltkriegs noch immer nachhängt, sagt er im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Sie sind seit mehr als 30 Jahren mit dem System Uni konfrontiert, zuerst als Student, später als Lehrender und Professor. Wenn Sie sich die Studierenden von heute anschauen, was kennzeichnet sie?

Hanappi: Die Studenten sind heute mehr "streamlined". Auf der einen Seite ist es leichter, mit ihnen umzugehen, weil sie gelernt haben, brav zu sein. Andererseits sind sie aufmüpfig, weil sie gehört haben, dass sie der Kunde sind und die Uni eine Firma. Die Auswirken schwanken zwischen peinlich und unangenehm. Vom Können her glaube ich, dass die formale Ausbildung schlechter geworden ist, in der reinen Mathematik zum Beispiel. In technischen Dingen sind sie besser, gerade an der TU. Ich schaue in den Schirm und kann nicht sagen, wie viel Pixel der hat. Die Studierenden wissen das.

Das Schlechteste an der Entwicklung ist die Unkonzentriertheit. Die Studenten müssen sich ständig auf etwas Neues einstellen, so dass sie nicht mehr fähig sind, sich wirklich auf irgendein Thema einzulassen. Diese Zeit versuche ich ihnen zu geben. Da sind die Studierenden dann sehr erstaunt, wenn ich sage, du hast für die Diplomarbeit so viel Zeit, wie du willst.

derStandard.at: Sie haben das selbst in Ihrem Studium so gehandhabt und gleich mehrere Fächer studiert.

Hanappi: Mein Grundstudium hat aus vielen Teilen bestanden. Begonnen habe ich mit Bauingeneurwesen, danach Architektur. 1974 war ich ein Jahr lang in Paris, habe das Ausklingen der Studentenrevolte miterlebt. Nach meinem Zurückkommen habe ich mir gedacht, ich muss was Politischeres studieren, und habe in der Folge Wirtschaftsinformatik und Volkswirtschaftslehre inskribiert. Ich habe mir auch kurzfristig überlegt, stärker in die Mathematik zu gehen, weil ich da ganz gut war. Wirtschaftsinformatik habe ich dann auch fertig studiert. Dazwischen habe ich aber auch noch ein wenig Afrikanistik und Politikwissenschaft studiert.

derStandard.at: Das würde heute nicht mehr honoriert werden.

Hanappi: Das geht nicht mehr, leider. Wir stehen vor einer Umstellung des Universitätswesens, das spüren auch alle. Die Art des Studierens ist anders geworden. Die Studierenden sind dadurch anders geprägt, sie sind viel mehr darauf aus, fertig zu werden. Was dabei herauskommt, ist leider oft ein Pseudowissen, wo man schnell in irgendeinen Job hineinrutscht und sich auf die Bedürfnisse irgendeiner heute noch großen Firma einstellt, die aber morgen vielleicht gar nicht mehr existiert.

derStandard.at: Sie bezeichnen den Fächerkanon auch als veraltet. Welche Studienrichtungen soll man ausbauen, welche verkleinern?

Hanappi: Ja, wir brauchen eine inhaltliche Studienreform. Es gehört ein mutiger Wissenschaftsminister her, der das durchführt. Es scheitert aber auch an der - älteren - Professorenschaft. Wenn ich jahrzehntelang etwas lehre und dafür Geld erhalte, will ich nicht, dass mein Wissen auf einmal entwertet wird.

Die Aufgabe der Wissenschaftspolitik ist es, dem entgegenzuwirken und, so gut es geht, sich neu zu orientieren. Das betrifft die technischen Wissenschaften etwas weniger, aber auch die gehören reformiert. Wie man heutzutage Mathematik lehrt, ist nicht besonders gut. Ich glaube überhaupt, dass der Mathematikunterricht inhaltlich abgelöst gehört. Es muss stärker ins Spielerische gehen. Wir kennen das von den Apps, die wir am Handy haben. Wir nennen das dann auch nicht mehr Mathematik, sondern Strukturwissenschaften. Und diese gehören zweifellos verstärkt.

derStandard.at: Welche Fächer würden Sie noch forcieren?

Hanappi: Alles, was mit Raumplanung und Architektur zu tun hat. Weltweit gibt es immer größere Gegensätze zwischen Stadt und Land, und das wirft Fragen auf. Auch die Biologie und Chemie wachsen zusammen. Politikwissenschaft gehört eigentlich schon in die Schule. In der AHS gibt es nichts dergleichen. Aber die 16-Jährigen sollen wählen und haben noch nie gehört, wie das politisch-ökonomische Ganze funktioniert.

derStandard.at: Auf welche Fächer soll man verzichten?

Hanappi: Verzichten würde ich auf gar nichts. Aber ich würde das sogenannte Kleinfach definieren. Es lebt, hat nicht wahnsinnig viele Studierende, man leistet es sich trotzdem. Genauso wie sich Europa Griechenland leistet. So kann eine Byzantinistik bestehen bleiben, die ein paar Ideen aufbereitet. Vielleicht gehen Leute irgendwann in ihrem Leben durch dieses Studium durch und nehmen was mit.

derStandard.at: Das bedeutet, dass man die Studienauswahl in Zukunft mehr steuern muss. Die Politik verhandelt in diesem Zusammenhang über Zugangsregeln. Derzeit ist es ja mehr oder weniger Zufall, wie groß eine Studienrichtung wird.

Hanappi: Es ist kein selbststeuerndes System, es ist ein Wildwuchs. Und es steckt null Planung dahinter. Das Ministerium hat 2002 mit dem Universitätsgesetz die Zügel aus der Hand gegeben, jetzt versuchen die Politiker, sie wieder in die Hand zu nehmen. Dazu muss man mutig sein, das ist die Politik aber nicht. Niemand hat das Standing und die Kraft, hier etwas anzugehen. Es bleibt ein Flickwerk.

derStandard.at: Sie schwärmen davon, verschiedene Studienrichtungen auszuprobieren, auf der anderen Seite verlangen Sie Steuerung. Wie passt das zusammen?

Hanappi: Der Studierende soll nach wie vor auswählen können. Ich halte nichts davon, dass man möglichst schnell ein vorgegebenes Studium absolviert. Es gibt exponentiell explodierendes Wissen, das zu vermitteln ist, und parallel dazu den beinahe dümmlichen Auftrag an die Unis, das bei stagnierendem Personal in immer kürzerer Zeit zu bewältigen. Das ist absurd.

Zugleich muss man unterscheiden zwischen Studien-Angebot und den Entscheidungen derer, die das nachfragen. Zu entscheiden, welche Studien man anbietet, zwischen denen man wählt, da gehört Erfahrung und Wissen dazu. Das kann man nicht den Studierenden überlassen.

derStandard.at: Die Politik verlässt sich auf Ratschläge der Wirtschaft.

Hanappi: Da gehört Steuerung herbei, die man nicht Wirtschaftsunternehmen überlassen soll. Der durchschnittliche TU-Student braucht immer noch sechs bis sieben Jahre. Das ist länger als der übliche Entscheidungshorizont von Firmen. Die Steuerung muss also von der Politik kommen, ohne sich von der Wirtschaft beeinflussen zu lassen.

derStandard.at: Sie fordern auch, dass man im Studium internationaler denkt und arbeitet.

Hanappi: Wir brauchen Leute, die sich ausdrücken können, die sowohl Alltagssprache als auch Fremdsprachen beherrschen. Da haben wir an der TU viel zu wenige. Alle meine Lehrveranstaltungen sind deshalb auch auf Englisch. Ich verlange von meinen Studierenden, dass sie alles auf Englisch präsentieren und Prüfungen auf Englisch machen. Sie müssen außerdem eine dritte Sprache beherrschen, das kann auch eine Programmiersprache sein. Jeder Student muss die Möglichkeit haben, in verschiedenen Sprachen zu sprechen. Das brauchen wir gerade in Europa. Schon Hegel hat gesagt, er hat seine eigene Phänomenologie des Geistes erst dann verstanden, als er die französische Übersetzung davon gelesen hat.

derStandard.at: Noch einmal zurück zur Frage der Zugangsbeschränkungen. An der TU Wien sind die Plätze für Informatiker heuer erstmals begrenzt. Wie beobachten Sie diese Entwicklung?

Hanappi: Zugangsbeschränkungen sind schlecht. Wir haben eine zu niedrige Akademikerquote. Alles, was die Leute abschreckt zu studieren, ist zu vermeiden. Wir sollten froh sein, dass mehr studieren wollen. An unserer Uni gibt es die Informatik und die Architektur, die überlaufen sind. Beim Rest wären wir froh, wenn wir mehr Studenten hätten.

derStandard.at: Der Bund ist offenbar nicht bereit, mehr Geld in die Hand zu nehmen. Warum ist in der Gesellschaft der Stellenwert der Universitäten so gering?

Hanappi: Sie werden als Politikum verwendet. Nicht die Universitäten selbst, sondern die Studierenden. Sie sind ein faules Pack, heißt es. Wer auf sie hinschimpft, bekommt Wählerstimmen.

Was bei uns auch bis heute nachwirkt, ist die Vernichtung und der Abzug der kritischen, oft jüdischen Gelehrten vor und während des Zweiten Weltkriegs und damit einer ganzen Gesellschaftsschicht. Wenn bei uns heute Nobelpreisträger auftreten wie Eric Kandel, dann schauen sie, dass sie so schnell wie möglich wieder draußen sind. Nicht, weil es bei uns besonders schrecklich ist, sondern weil wir ein Image haben, das in intellektuellen Zirkeln nicht besonders gut ist.

Unsere Chance, dem entgegenzuwirken und zu überleben, ist, dass wir einen Braindrain in die Gegenrichtung initiieren. Das wäre ein interessantes politisches und ökonomisches Projekt.

derStandard.at: Wie kann man das erreichen? Wie soll ein solcher Wandel vonstattengehen?

Hanappi: Wir leben stark von der Vergangenheit - vom Ruf her. Daher muss man Wissenschaftern aus aller Welt in Österreich und in ganz Europa ein intellektuelles Reizklima bieten, wo es viel Austausch und viel Neues zu erfahren gibt. Ich nenne es "Pilotprojekt Europa".

Wenn wir unseren Platz in der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung finden wollen, müssen wir uns auf die Wissensproduktion stürzen. Europa muss zu einer Art riesiger Gelehrtenrepublik werden, wo wir Leute aus aller Welt ausbilden. Ich sehe das als einzige Chance für Europa, denn Bananen züchten können wir nicht besonders gut, auch die Stahlbarone sind ausgezogen. Wir sind auch keine Biotech-Firma, das können wir nicht so gut wie die Amerikaner.

Wir müssen ein anderes Wissensakkumulationsmodell fördern, das weltweit aber sehr stark benötigt wird. Dazu zählen all die Dinge, die mit Demokratie zusammenhängen, mit Demokratie-Design, mit Mechanismen, wie man 500 Millionen Menschen politisch so organisieren kann, dass der politische Prozess als demokratisch bezeichnet werden kann. Das ist eine extrem schwierige Frage, das haben wir früher nicht gehabt.

derStandard.at: Sich diesen Ruf zu erarbeiten wird aber schwer sein. In den Rankings verlieren die europäischen Universitäten derzeit an Boden und schneiden im Vergleich zu den USA immer schlechter ab.

Hanappi: Das ist wie mit Ratingagenturen. Wenn dir die Ratingagentur gehört, wirst du sie verwenden, um besser dazustehen. Die Rankings sagen wenig aus. Den Pferdefuß an der Sache sehe ich hauptsächlich im Publikationssystem, vor allem in der Ökonomie. Es gibt eine Journal-Kultur, die an die Wand fährt. Es wird unglaublich viel Wissen verschlissen, weil man die Leute auf Dinge ansetzt, die von Editoren von wissenschaftlichen Journals gefordert werden. Das hält den ganzen akademischen Betrieb auf. Ich nenne das Sudoku-Economics. Man kann ein bissl was lösen, es ist aber für nichts gut.

derStandard.at: Sie formulieren es in einem Aufsatz sehr drastisch und fragen: "Can Europe survive?" Ohne Ihre zehn Maßnahmen, unter anderem eine große "Gelehrtenrepublik" zu gründen, ist unser Kontinent nicht mehr lebensfähig?

Hanappi: Ja, die zehn Gebote, die ich da kurzfristig fordere, müssen rasch passieren. Die Konzentration auf Wissensproduktion ist das zehnte dieser Gebote, "Gelehrtenrepublik" sollte man das nicht nennen - das klingt verzopft. Aber: Die großen Produktionsbetriebe gehen längst alle in den Osten. Nicht nur Benetton, der zuerst in Ex-Jugoslawien war, dann in der Ukraine und demnächst in China sein wird. Es betrifft viele, viele andere Betriebe auch. Wir haben weniger anzubieten in der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung, als wir denken. Wir müssen unseren Platz finden. "Education" ist das, worauf wir uns spezialisieren sollten. (Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 10.10.2012)