Bild nicht mehr verfügbar.

Peter Handke im Jahr 2008.

Foto: AP/Latz

Berlin/Wien - Selbst bei Suhrkamp hat man nicht mehr geglaubt, dass den binnen zweier Jahre entstandenen Versuchen ein weiterer folgen könnte: Gleich mehrfach wurden jene über die Müdigkeit (1989), die Jukebox (1990) und den geglückten Tag (1991) unter dem Titel Die drei Versuche in einem Band veröffentlicht.

Aber nun, zwei Jahrzehnte später, hat Peter Handke, der Schelm, die Trilogie zur Tetralogie erweitert: mit einem amüsanten, kurzweiligen Versuch über den Stillen Ort. Gemeint ist allerdings nicht so sehr der Ort der Stille, über den der Autor immer wieder sinniert, sondern das stille Örtchen.

Handke, ein gewissenhafter Rechercheur, beschäftigte sich als Vorbereitung eingehend mit der Kulturgeschichte der Toilette. Sein Versuch ist aber eher eine Art Autobiografie: Der Autor erzählt sein Leben recht chronologisch anhand prägender Toilettenerlebnisse nach. Und weil wohl jeder Erwachsene ähnliche Erfahrungen machen musste oder durfte, fällt es fast leicht, sich mit dem Schriftsteller, der am 6. Dezember 70 Jahre wird, zu identifizieren.

Die Geschichte beginnt mit dem Plumpsklo seines Großvaters Gregor Siutz in Griffen: Der senkrechte Schacht "vom Sitzloch hinab Richtung Misthaufen" erschien dem Kind ungewöhnlich lang. Das Spezielle jenes Ortes aber war das Licht, das durch das Holz des Verschlags schimmerte. Von "Gestank" weiß Handke nichts zu berichten, ihm fällt aber eine örtliche Anekdote ein: dass ein Kind dem Pfarrer im Auftrag der Eltern Birnen brachte - "Birnen vom Scheißhausbaum", wie es sagte.

Bekanntlich besuchte Handke ab 1954 auf eigenen Wunsch das Marianum in Maria Saal; am ersten Tag wagte er es nicht, nach der Toilette zu fragen: Er machte sich im Speisesaal, nachdem der Präfekt den Segen gesprochen hatte, in die Hose. Starr saß er bei Tisch. Und dann flüchtete er "zu der entlegensten und verstecktesten Toilette" im Internat: "Erstmals war ich es, war es meine Person, um die es ging an dem Stillen Ort." Die Toilette begann "Fluchtraum" und "Asylort" zu werden.

Mit Leichtigkeit erzählt Handke, wie er, erstmals allein unterwegs, in Spittal eine Nacht in der Bahnhofstoilette verbrachte: Obwohl er die Eintrittsgebühr (einen Schilling) entrichtet hatte, empfand er sich als "Illegaler", der kein Recht hatte, hier zu liegen.

1961 ging Handke nach Graz, um Jus zu studieren. Als Untermieter fand er die Tür zum Badezimmer oft verschlossen: In der Not wusch er sich mitunter die Haare auf der Fakultätstoilette. Eines Doppelgängers ansichtig, bemerkte er, dass er gar nicht so "einzelgängerisch und außenseiterisch" war, wie er geglaubt hatte. Und Mitte der 1960er-Jahre wurde er zum Popstar der Literatur, Handke begann zu reisen: Wäre der Versuch über den Stillen Ort ein Film, dann wäre die Sequenz jener Jahre rhythmisiert "von Blicken durch noch und noch Zugtoilettenlöcher hinab auf noch und noch Schienenstränge".

Die Idee vom Stillen Ort, der weit mehr ist als nur Zuflucht und Rückzugsgebiet ("Endlich allein!"), kam Handke Anfang der 1980er-Jahre in Japan - in der Tempelgartentoilette von Nara. Hier nun stößt man wieder auf das Programm, das Handke in der Langsamen Heimkehr (1979) und in Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) entwickelt hat. Er stellt fest, dass er am Klo zum "Raumvermesser" wird, wie sein damaliges Alter Ego, Valentin Sorger, einer war. Und im Dämmerschimmer jener Toilette von Nara verwandelte er sich "flugs in jemand Sorglosen". Ihm kam der faustische Wunsch nach Dauer.  (Thomas Trenkler, DER STANDARD, 9.10.2012)