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In den Bauch gespritzt, erzielt man mit der Insulininjektion die schnellste Wirkung.

Foto: APA/Reed Saxon

Der Tag der Deutschen Einheit war für die Besucher der 48. Jahrestagung der European Association for Studies in Diabetes (EASD) kein Feiertag. Mehr als 18.000 Personen hatten sich für den weltgrößten Diabetes-Kongress angemeldet und strömten Richtung Funkturm. Der Zulauf hängt wohl auch mit der dramatisch steigenden Zahl der Erkrankten in Europa zusammen. 53 Millionen EU-Bürger sind von der Stoffwechselstörung betroffen, allein in Österreich schätzt man die Zahl der Diabetiker auf 600.000. In Deutschland wird exakter gezählt: Dort sind acht Millionen registriert.

Wie sich Diabetiker beim Autofahren fühlen, wenn sie in die Unterzuckerung fallen, konnten die Messe-Besucher in Berlin am eigenen Leib erfahren. In einer der Hallen waren Terminals aufgebaut, an denen Menschen mit 3-D-Brillen vor einem Computerbildschirm an einem Lenkrad sitzen. Es ist eine Unterzuckerungs-Simulation. Je stärker die Unterzuckerung (Hypoglykämie), umso massiver sind die optischen Einschränkungen. Der Blick wird eng, Flimmerbilder tauchen auf, diejenigen, die Diabetes virtuell erleben, können die Spur auf der Straße am Bildschirm nicht mehr halten, driften ab. Ziel dieser Übung: Personal und Ärzte sollen besser verstehen, was die Krankheit bedeutet.

Vor welche Herausforderungen Diabetes die Wissenschaft stellt, machte der EASD-Präsident Andrew Boulton, Diabetologe aus Manchester, in seiner Eröffnungsrede klar. "Die derzeit gültigen Regelungen der Europäischen Union zur Qualitätskontrolle von Blutzuckermessgeräten, Insulinpumpen und Sensoren sind im Bereich der Diabetologie völlig unzureichend", kritisierte er und forderte Maßnahmen zur Qualitätssicherung. Nur so können Behandlungen, bei denen Patienten aktiv mitarbeiten müssen, langfristig auch erfolgreich sein. Konkret heißt es, dass Diabetiker sich auf die Ergebnisse der Selbstmessung ihres Blutzuckerspiegels verlassen können müssen. Denn von der Genauigkeit der Messung hängt schließlich die Insulindosis ab.

Diskutiert wurde auch der Einsatz der Insulinpumpe, einem mit dem Körper verbundenen Gerät, das die Basisversorgung sicherstellt und bei Menschen mit starken Blutzuckerschwankungen erfolgreich zum Einsatz kommt. Hier geht es vor allem um die Genauigkeit der Insulinabgaben - in Europa wird das im Vergleich zu den USA viel schlechter kontrolliert.

Koordinierte Sicherheit

Die EASD fordert, dass für Blutzuckerselbstkontrollmethoden deutlich härtere Kriterien an die Qualitätssicherung angelegt werden und dass Betroffene, deren Insulinpumpen oder Sensoren von Kostenträgern bezahlt werden, grundsätzlich in Register aufgenommen werden, um technische Probleme der Geräte rechtzeitig zu erkennen. Mit großer Sorge beobachtet die EASD, dass die neuesten Entwürfe der EU in diesen Belangen keinen Fortschritt bringen. Aus den Problemen mit Brustimplantaten, die kaum Kontrollen unterzogen wurden und dadurch schwere Probleme nach sich zogen, haben die Verantwortlichen wenig gelernt.

Insgesamt waren es 1300 Forschungsergebnisse aus 130 Ländern, die am EASD präsentiert wurden - einige davon auch im Paul-Langerhans-Saal. Der Entdecker der insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse war ein Berliner, die Zellen tragen seinen Namen.

Mit Spannung erwartet wurde auch die Session zum Thema Diabetes und Krebs. Einst war das von Sanofi Aventis gentechnisch hergestellte Insulin Glargin im Verdacht gestanden, Krebswachstum zu fördern. Eine bereits veröffentlichte Studie, die diesen Verdacht entkräftete, wurde durch eine weitere erneut bestätigt. Die doppelte Entwarnung entlastet viele Diabetiker, die Glargin täglich einsetzen. "Neu war das nicht, aber beruhigend", kommentierte auch Thomas Wascher, Diabetologe am Wiener Wilhelminenspital - bei der in Berlin präsentierten Studie war der Zusammenhang zwischen Diabetes und Brustkrebsrisiko untersucht worden.

Individuelle Therapie

Spannend fand der Diabetologe die Erkenntnisse rund um die Insulinresistenz bei vielen Diabetes-Patienten. "Wir wollen wissen, ob diese Resistenz tatsächlich automatisch mit dem älter werdenden menschlichen Körper fortschreitet oder doch mit weniger Beweglichkeit und Sport im höheren Lebensalter zunimmt", so Wascher. Er ortet zudem Potenzial im Bereich von Medikamenten, die entzündliche Prozesse verhindern. Dass es großen Bedarf an neuen Arzneimitteln und Methoden gibt, war in den Ausstellungshallen sichtbar. Dort hatten die Firmen ihre Stände aufgebaut. Die Pharmaindustrie arbeitet aktuell an rund 130 möglichen neuen Medikamenten. Von einer allgemeinen Krise wie in anderen Branchen ist hier nichts zu spüren.

Erfreulich war letztlich die Ankündigung, dass die großen Forschungsgesellschaften Europas und Amerikas, die EASD und die ADA (American Diabetes Association), in Zukunft noch enger zusammenarbeiten und auch die Behandlungsrichtlinien abstimmen werden. Das Credo: Jeder an Diabetes Erkrankte muss individuell behandelt werden. Rudolf Prager, Diabetes-Experte vom Krankenhaus Hietzing: "Wir sehen, dass trotz steigender Zahlen bei den Diabetes-Erkrankungen rund ein Drittel weniger Herzinfarkte festzustellen sind. Vor allem mit den neuen Medikamenten sind stabile Zuckerwerte ohne Hypoglykämien und Gewichtszunahmen möglich." (Peter P. Hopfinger aus Berlin, DER STANDARD, 8.10.2012)

QMehr News zum Thema publiziert Peter P. Hopfinger, Herausgeber von Österreichs größter Diabetes-Plattform, unter www.diabetes-austria.com