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Viele Flüchtlinge in Griechenland leben auf der Straße. Sie übernachten in Kartons oder in Schlafsäcken und essen aus dem Müll.

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Sozialarbeit als "Sisyphusarbeit": Salinia Stroux.

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STANDARD: Aus Griechenland kamen zuletzt Berichte über faschistische Schlägertrupps, die auf Märkten Stände von Migranten zerstören. Wie groß ist die Gefahr für Migranten und Flüchtlinge auf Griechenlands Straßen?

Stroux: Sehr groß. Wir hören von mindestens jedem zweiten Flüchtling oder Papierlosen, dass er oder sie einmal oder öfter angegriffen wurde, von faschistischen Gruppen oder von rassistischen Polizeiangehörigen. Wir kommen nicht mehr hinterher.

STANDARD: Was für Angriffe sind das?

Stroux: Etwa, dass ein Flüchtling, der Müll sammelt, um zu überleben und diesen in einem Einkaufswagen zur Recyclinganlage karrt, plötzlich von zwei, vier, sechs Menschen attackiert wird. Sie schlagen ihn und greifen ihn mit Messern an. Viele Überfallene kommen ins Spital, alle haben nachher große Angst. Dabei ist es für Papierlose, die auf der Straße leben, ohnehin sehr schwer, an Geld für Essen zu kommen.

STANDARD: Die Polizei schützt die Papierlosen nicht?

Stroux: Vielfach nein. Oft mischen sich Polizisten gar nicht ein oder kommen erst viel später dazu - und verlangen dann den Ausweis des Überfallenen, der vielleicht blutüberströmt daliegt.

STANDARD: Gab es bei solchen Überfällen schon Tote?

Stroux: In einigen Fällen schon. Im Mai etwa fand im Zentrum Athens ein Antimigrantenpogrom statt, das eine Woche anhielt. Erwachsene und kleine Kinder wurden mit Knüppeln gejagt, Geschäfte angezündet. In der Nacht patrouillierten faschistische Kleingruppen, auch Frauen und Jugendliche, auf Mopeds. Sie überfielen Ausländer. Damals starb ein Mann aus Bangladesh.

STANDARD: Sie nennen das, was in Athen geschah, Pogrom?

Stroux: Ja, es handelte sich um tagelang anhaltende, systematische rassistische Gewalt.

STANDARD: Geht diese Gewalt von der faschistischen Partei "Goldene Morgenröte" aus - oder gibt es verschiedene Gruppen?

Stroux: Man muss sich die "Goldene Morgenröte" mehr als faschistische Bewegung vorstellen. Als Partei gibt es sie seit 30 Jahren, aber erst bei den vergangenen zwei Wahlen kam sie weit über ein Prozent.

STANDARD: Waren Antiflüchtlingsslogans für diesen Aufstieg wichtig?

Stroux: Der Erfolg der Faschisten hat mehr mit Organisation in den Vierteln zu tun. Das haben sie seit Jahren vorangetrieben. Die Wirtschafts- und Flüchtlingskrise ist für sie eine Gunst der Stunde. Die Linke, aber auch die Regierung, haben hier viel versäumt.

STANDARD: Viele Flüchtlinge in Griechenland leben auf der Straße. Aber laut Berichten des Ex-UN-Sonderberichterstatters über Folter, Manfred Nowak, war 2010 auch die Lage in den Polizeigefängnisses schlimm. Er erzählte von verdreckten, überfüllten Zellen. Hat sich hier etwas geändert?

Stroux: Es ist insgesamt noch schlimmer geworden. Zwar kommen weniger Flüchtlinge über die türkisch-griechische Landgrenze am Fluss Evros, wo Nowak seine Besuche machte, und wieder mehr auf dem Seeweg. Aber in den dortigen Polizeigefängnissen hat sich außer ein wenig oberfläch licher Renovierung nichts geändert. Und seit zwei Monaten finden im Raum Athen große Razzien statt. Mehr als 2000 Papierlose wurden seither in drei rasch adaptierte ehemalige Polizeischulen und Militärlager gebracht, um ihre Abschiebung vorzubereiten.

STANDARD: Fließt dafür EU-Geld?

Stroux: Ja, es fließt in den Bau von gefängnisähnlichen Aufnahmelagern und in die Grenzkontrolle. Aber nicht ins Soziale, etwa, um neue Unterkünfte zu errichten. In Griechenland leben hunderttausende Papierlose, und obwohl es nur ein Bruchteil der Flüchtinge schafft, einen Asylantrag zu stellen, sind 45.000 Asylanträge unerledigt. Für sie alle gibt es nur rund 1000 staatliche Unterkünfte.

STANDARD: Wo leben die Flüchtlinge dann?

Stroux: In den Parks, auf der Straße, in verlassenen Fabriken - Männer, Frauen, Kinder. Sie übernachten in Kartons oder in Schlafsäcken und essen aus dem Müll, so wie viele Griechen inzwischen ja leider auch.

STANDARD: Wie hilft man in einer solchen Lage?

Stroux: Es ist eine Sisyphusarbeit. Rechtsberater werden von der Aufgabe, Klienten Zutritt zu Ausländerbehörden zu verschaffen, zermürbt, denn das ist nicht selbstverständlich. Sozialarbeiter versuchen vergeblich, Obdachlose, die in Kartons leben, von Drogen wegzubekommen, denn sie haben nichts anzubieten. Und das Schlimmste ist, dass es keine Aussicht auf Besserung gibt - im Gegenteil, so fürchte ich. (Irene Brickner, DER STANDARD, 6./7.10.2012)