Bild nicht mehr verfügbar.

Die Occupy-Bewegung ist nicht gescheitert, sagt Joseph Stiglitz.

Foto: APA/Hochmuth
Foto: Verlag

STANDARD: Sie bringen in Ihrem neuen Buch "Preis der Ungleichheit" dutzende Belege dafür, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in den USA dramatisch wächst. Welcher davon ist für Sie am bemerkenswertesten?

Stiglitz: Am meisten schockiert hat mich die Tatsache, dass die USA kein Land mehr sind, indem es Chancengleichheit gibt. Das ist bemerkenswert, weil wir Amerikaner uns anders sehen. Wir glauben nach wie vor an den amerikanischen Traum, daran, dass ein einfacher Arbeiter aufsteigen und es zu Wohlstand bringen kann. Dabei gibt es solche Geschichten nur mehr sehr selten.

STANDARD: Sie machen für die wachsende Ungleichheit das Wirtschaftssystem verantwortlich und kritisieren, dass die Politik nicht gegensteuert. Nehmen Sie die Menschen nicht aus der Eigenverantwortung: Die US-Politiker sind alle gewählt worden, der Kurs ist also offenbar gewünscht.

Stiglitz: Das ist in der Tat ein Rätsel. Aber in der US-Politik wird alles unternommen, um die ärmste Bevölkerungsschicht zu desillusionieren und zu entmachten. Das oberste Prozent der Bevölkerung hat gut verstanden, dass man Menschen selbst dann von etwas überzeugen kann, wenn die Argumente nicht stimmen. Unternehmen können ja auch Zigaretten verkaufen und den Menschen einreden, diese seien nicht gefährlich. Dazu kommt, dass die Parteien für Wahlwerbung grenzenlos Geld ausgeben dürfen. Barack Obama und Mitt Romney werden eine Milliarde Dollar für ihre Kampagnen ausgeben. Da gilt nicht mehr "Ein Mensch, eine Stimme", sondern "Ein Dollar, eine Stimme".

STANDARD: Am Ende des Tages, sind es aber Individuen, die abstimmen. Auf Eigenverantwortung legen Sie auch sonst kaum Wert: So werfen Sie den Banken vor, die Krise verschuldet zu haben, weil Millionen an hochriskanten Krediten vergeben wurden. Niemand hat die Kunden gezwungen, diese Kredite zu nehmen.

Stiglitz: Das stimmt, aber kaum ein Kunde hat die Dokumente, die er unterschieb, verstanden. Jetzt kann man sagen, diese Leute sind alle selbst schuld. Aber in einer hochkomplexen Welt würden überhaupt keine Verträge zustande kommen, wenn jeder alles verstehen müsste. Deshalb sollten Konsumentenschützer die Kunden vor Übervorteilung schützen. Nur ist das in den vergangenen Jahren nicht geschehen.

STANDARD: Sie haben vor einigen Monaten gemeint, die Protestbewegung Occupy, die für mehr Gerechtigkeit kämpft, werde eine entscheidende Rolle im US-Wahlkampf spielen. Nun ist Occupy gar nicht präsent.

Stiglitz: Das mag sein, aber sie hat ein starkes Vermächtnis hinterlassen. Eine der am meisten diskutierten Aussagen im US-Wahlkampf war jene des Republikaners Mitt Romney, der gemeint hat, 47 Prozent der Amerikaner würden für Obama stimmen, weil sie von staatlichen Leistungen abhängig sind und keine Steuern zahlen. Die Debatte über seine Äußerungen war ein Widerhall von vielen Occupy-Slogans. Was viele Menschen so wütend gemacht hat, war, dass Romney selbst kaum Steuern zahlt. Die meisten, über die er sprach, sind Pensionisten, die ihr Leben lang in die Versicherung einbezahlt haben und wenig herausbekommen. Zu sagen, diese Leute seien Schnorrer, zeigt, wie abgehoben Romney ist und wie wenig er die Lebensrealität der meisten Amerikaner kennt.

STANDARD: Ist Occupy nicht ein ernüchterndes Beispiel dafür, dass die meisten Protestbewegungen scheitern? In den Camps in New York und Frankfurt wurde zuletzt nur mehr darüber gestritten, wer wann Geschirr abwäscht. Der Alltag hat die politischen Ambitionen gefressen.

Stiglitz: Es gab Enttäuschungen. Aber in Spanien spielen die Empörten weiter eine Rolle. Außerdem sind Protestbewegungen nicht der Ort, an dem die Probleme der Globalisierung gelöst werden. Protestgruppen haben vielleicht noch nie irgendein Problem gelöst. Sie schärfen aber das Bewusstsein der Gesellschaft.

STANDARD: Apropos Spanien: Sie haben die Antikrisenpolitik in Europa zuletzt heftig kritisiert, vor allem weil überall nur gespart wird. Hat sich daran etwas geändert?

Stiglitz: Was die Sparpakete betrifft, wird die Lage immer schlimmer. Spanien steckt in der Depression. Es gibt kein anderes Wort um die Lage in einem Land zu beschreiben, in dem die Arbeitslosigkeit bei 25 Prozent liegt. Griechenland steckt ebenso in der Depression. Die Eurozone hat es nicht geschafft, Vertrauen zurückzugewinnen, und ohne Strategieumkehr sehe ich nicht, wie das gelingen soll. Das war vorhersehbar. Die Sparstrategie ist ein Fantasiegebilde Europas und hat noch nie funktioniert. Nicht in Asien in den 90er-Jahren, später nicht in Argentinien und heute nicht in Europa.

STANDARD: Was wäre Ihre Strategie?

Stiglitz: Der Ausweg ist mehr Europa. Die Schulden sollten vergemeinschaftet werden. Die Verschuldung der Eurozone ist niedriger als jene der USA; wenn alle Länder gemeinsam Kredite aufnehmen, wäre das zu vernünftigen Konditionen möglich. Zudem ist die Schaffung einer gemeinsamen Einlagensicherung für Banken nötig. So wie derzeit geplant, nur die Aufsicht zu bündeln wird nicht ausreichen.

STANDARD: Sie sind kommende Woche bei der Frankfurter Buchmesse. Sie können ja versuchen, die Deutschen zu überzeugen, dass sie für Sparer in Spanien mithaften sollen.

Stiglitz: Ohne gemeinsame Einlagensicherung kann eine Währungsunion nicht funktionieren, weil sonst ständig Geld aus finanzschwachen Ländern abfließt. Ich weiß nicht, ob die Deutschen sich überreden lassen, aber die Alternative ist der Zusammenbruch des Euro, was für alle teuer wird.

STANDARD: Sie fordern seit Jahren die strengere Regulierung der Finanzindustrie. Gab es aus Ihrer Sicht Fortschritte?

Stiglitz: Es wurden Reformen verabschiedet. Aber wenn man sich ansieht, was 2008 auf der Aufgabenliste stand, ist vieles unerledigt geblieben und manches schlimmer geworden. Eines der großen Probleme ist jenes des "too big to fail", also dass Banken zu groß sind, um sie pleitegehen zu lassen. Doch die Konzentration am Finanzsektor hat sich verstärkt. Die Bonussysteme, die Manager dazu verleiten, hohe Risiken einzugehen, wurden kaum verändert. Und der Markt mit komplexen Finanzprodukten wie den CDS ist weiter intransparent.

STANDARD: Sie meinen Credit Default Swaps, mit denen sich Anleger vor Staatspleiten schützen oder auf diese spekulieren können.

Stiglitz: Ja. Wir haben das Problem bei den Diskussionen über eine Entschuldung Griechenlands gesehen. Die Europäische Zentralbank hat darauf gepocht, dass die CDS nicht schlagend werden, weil das die Banken, die solche Versicherungen abgeschlossen haben, Milliarden kosten würde. Die Furcht der EZB war übertrieben, aber das Bemerkenswerte war, dass offensichtlich noch immer niemand weiß, wie viele dieser Verträge abgeschlossen wurden. (András Szigetvari, DER STANDARD, 4.10.2012)