"Können Sie mir sagen, wo wir hier sind?", fragt Gatterer. "Schnirchgasse 9a, 1030 Wien, ...

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... hier ist die Sigmund Freud Privatuniversität Wien, Zentrum für Gedächtnisvorsorge, zweiter Stock, Ambulanz", kommt meine Antwort zu meiner eigenen Verwunderung wie aus der Pistole geschossen.

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Zuvor hat mich Gerald Gatterer, Leiter des Zentrums für Gedächtnisvorsorge, in einen großen, mit Sofas, Couchtischen und Spielsachen ausgestatteten Raum geführt ...

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... und den standardisierten Demenzscreening-Score mit Basisfragen eingeleitet: "Wie ist Ihr Name? Adresse? Krankheiten in der Familie? Was haben wir heute für ein Datum? Welche Jahreszeit?"

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Einige Testminuten später gilt es, möglichst schnell das oben gezeigte Objekt auf dem Blatt Papier anzukreuzen, ...

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... geometrische Formen nachzuzeichnen ...

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... und - für mich vergleichweise einfach - zu erklären, was auf dieser Zeichung zu sehen ist.

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Medikamentöse Therapien in Kombination mit Gedächtnistraining können die Demenzerkrankung um drei bis fünf Jahre nach hinten verschieben.

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Mein Hirn ist ein Sieb. Gesichter und Namen muss ich mindestens zweimal sehen beziehungsweise hören, um sie mir merken zu können, und an die E-Mails vom Vortag kann ich mich auch nicht erinnern. Oft habe ich den Eindruck, dass mein Gehirn nicht mehr viel speichern kann. Ob es sich um einen "Overload" der "Festplatte" oder gar um "Digitale Demenz" handelt, soll ein Besuch in der Sigmund Freud Privatuniversität (SFU) klären, in der seit Ende April das Zentrum für Gedächtnisvorsorge beheimatet ist.

Erkrankung der Zukunft

"Eigentlich sind Sie ja noch zu jung für den Test", sagt Gerald Gatterer, der mich in der Ambulanz im zweiten Stock begrüßt und in den Testraum geleitet. "Unter 50 brauchen Sie sich keine Gedanken wegen Demenz zu machen", meint der Abteilungsvorstand der Memory-Klinik im Geriatriezentrum am Wienerwald und Leiter des Instituts für Altersforschung sowie des Zentrums für Gedächtnisvorsorge an der SFU. Die Aufgabe des Zentrums liege in der Früherkennung und in der Sensibilisierung vor allem älterer Menschen.

Gatterer weiht mich in die Fakten ein: 100.000 Menschen sind in Österreich derzeit von einer Demenzerkrankung betroffen. Ein Drittel leidet an leichter, ein Drittel an mittelgradiger, ein Drittel an schwerer Demenz. "Bis 2030 wird sich diese Zahl mit 180.000 bis 200.000 Betroffenen in etwa verdoppeln", prognostiziert der Klinische Psychologe und Psychotherapeut. "Bezieht man auch die leichten Störungen ein, müssen wir mit bis zu 240.000 Betroffenen rechnen."

"Wann war der Erste Weltkrieg?"

Wir nehmen in einem großen, mit Sofas, Couchtischen und Spielsachen ausgestatteten Raum Platz. Der Test beginnt mit einer Erhebung meiner Daten: Name, Alter, Familienstand, Erkrankungen in der Familie, aber auch Datum und Jahreszeit sind gefragt, und schon komme ich ein wenig unter Druck, wäre doch gerade bei der Abfrage solchen Basiswissens jede falsche Antwort peinlich. "Können Sie mir sagen, wo wir uns hier befinden?", fragt Gerald Gatterer. Ich beginne zu schwitzen und wundere mich, dass ich ganz selbstverständlich weiß, wo wir hier sind: "Schnirchgasse 9a, dritter Bezirk."

Als Gerald Gatterer zu Bildungsfragen übergeht - "Wann war der Erste Weltkrieg?", "Wie hieß der erste Bundeskanzler nach dem Zweiten Weltkrieg?" -, erhöht sich der Druck, sollten doch die richtigen Antworten "wie aus der Pistole geschossen" kommen - das meinten zumindest früher die Lehrer. Schnell fühle ich mich ins Klassenzimmer zurückversetzt, obwohl Gatterer mit seiner freundlichen und keineswegs wertenden Art rein gar nichts dazu beiträgt, Stress zu verbreiten. Damit ist sonnenklar: Den Druck mache ich mir selbst.

Das individuelle Gedächtnis

Der Leiter des Zentrums für Gedächtnisvorsorge zählt Buchstaben- und Zahlenreihen auf, die es zuerst von vorne nach hinten, dann von hinten nach vorne zu wiederholen gilt. Dann soll ich in kurzer Zeit möglichst viele Tierarten nennen und mir eine fremde Postanschrift merken. Aus einer Reihe geometrischer Figuren gilt es möglichst schnell Doppelungen wegzustreichen. Rasche und vielfältige Anforderungen an mein Gehirn, das bereits nach kurzer Zeit zu "rauchen" beginnt. Vergleichsweise einfach ist es dagegen, ein Bild anzuschauen und zu erzählen, was ich da sehe.

Ob eine Antwort richtig oder falsch war, gibt Gatterer nicht bekannt. Viele Fragen erscheinen mir allzu banal, andere ausschließlich für "Bildungsbürger" relevant, wieder andere zu schwierig. Doch der bunte Mix an Fragen und Aufgaben ist perfekt durchdacht: "Mit diesem standardisierten globalen Demenzscreening-Score kann man anhand individueller Gegebenheiten wie Alter, Beruf oder Bildungsgrad feststellen, wie gut das Gedächtnis jeder einzelnen Person ist. Die Gedächtnisleistung eines Mathematikers wird in anderen Bereichen besser oder schlechter ausgebildet sein als die eines Bauern", sagt Gatterer. Darüber hinaus ist der Test in der Lage, auf die Ursachen kognitiver Beeinträchtigungen einzugehen.

"Das Altgedächtnis ist bildungsabhängig und hält sehr lange", erklärt Gatterer die Relevanz der Bildungsfragen. Was bei Demenz als Erstes verlorengehe, seien die Gedächtnisleistung und die Merkfähigkeit neuer Inhalte. "Alles, was mit Geschwindigkeit, Anpassung oder dem Erlernen neuer Inhalte zu tun hat, nimmt bereits ab dem 30. Lebensjahr ab", lautet die Prognose des Gedächtnisexperten. Die gute Nachricht: Gedächtnistraining soll dieser natürlichen Entwicklung effizient vorbeugen.

Verschiedene Ursachen

Weisen die Testergebnisse einer Person eine Schwäche in einem Bereich auf, gilt es diese korrekt zu interpretieren. Wenn ein Verdacht auf eine Gedächtniserkrankung besteht, erhält der Patient einen Befund samt Überweisung zur weiteren diagnostischen Abklärung an der Memory Clinic des SMZ-Ost. "Denn Demenz ist nicht gleich Demenz", betont Gatterer, "es gibt verschiedene Ursachen dafür." So können etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nierenerkrankungen und Alkoholismus zu gefäßbedingter Demenz führen. Auch ein depressives Stimmungsbild kann hinter der verminderten Gedächtnisleistung stehen. Ein spezifischer Fragenkatalog führt hier zur richtigen Diagnose.

Im Rahmen der genannten Erkrankungen spricht man von "reversibler Demenz", wobei eine entsprechende medikamentöse Therapie das Gedächtnis nachhaltig verbessern kann. Voraussetzung dafür ist Früherkennung, und genau hier liegt die Intention des Gedächtnisvorsorgezentrums: "Viele Betroffene kommen erst in die Kliniken, wenn die Demenzerkrankung schon weiter fortgeschritten ist", beobachtet Gatterer. Es gebe nur wenige niederschwellige Angebote zur Gedächtnisvorsorge, und die Hürde, bei einem leisen Verdacht gleich einen Arzt aufzusuchen, sei für die meisten zu groß. "Aber je früher man draufkommt, umso wirkungsvoller die Therapie."

"Kein Schicksal"

Die häufigste Form von Demenz ist Alzheimer. Eine Erkrankung, für die es derzeit keine Heilung gibt. "Aber Demenz ist kein Schicksal in dem Sinne von 'Jetzt verblöde ich', sondern man kann durchaus selbst etwas dazu beitragen", sagt Gatterer. Medikamentöse Therapien in Kombination mit Gedächtnistraining könnten die Demenzerkrankung um drei bis fünf Jahre nach hinten verschieben, was angesichts der Tatsache, dass Demenz vor allem im fortgeschrittenen Alter auftritt, eine maßgebliche Steigerung der Lebensqualität bedeuten würde.

Nach einer halben Stunde ist der Test abgeschlossen. Ich bin erstaunt, da ich mit einem höheren Zeitaufwand gerechnet habe. Noch mehr erstaunt mich Gatterers Diagnose: "Ihre Gedächtnisleistung ist ausgezeichnet", weshalb er die kurze Basis-Vorsorgeuntersuchung für ausreichend hält. Erst bei Hinweisen auf Gedächtnisstörungen würden weitere spezifische Untersuchungen folgen.

Woher kommt dann mein Unvermögen, mir Namen, Gesichter und andere Eindrücke zu merken? "Das kann schon eine gewisse Überforderung sein durch die Online-Arbeit, Multitasking, Stress et cetera", meint Gatterer und empfiehlt mir, die Freizeit konsequent "offline" zu gestalten, eine gezielte Entspannungstechnik zu praktizieren und mein Gehirn zu trainieren: "Mit unserem Gehirn ist es wie mit jedem Muskel: Use it or lose it. Es gilt aber, ein Mittelmaß zwischen Über- und Unterforderung zu finden, denn zu viel Gedächtnistraining überfordert das Gehirn." (Eva Tinsobin, derStandard.at, 11.10.2012)