Metamorphose einer bürgerlichen Frau in eine Jägerin.

foto: thimfilm

Martina Gedeck in Julian Pölslers Literaturverfilmung "Die Wand".

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Dominik Kamalzadeh erzählte sie von dem schwierigen Part.

Eine Frau stößt eines Morgens im Salzkammergut, mitten in der Natur, an eine unsichtbare Wand, die sie von allen Mitmenschen abschirmt: Marlen Haushofers Roman Die Wand (1963) gehört zu den Klassikern der modernen österreichischen Literatur. Trotz seiner nüchternen Prosa, die eine Ausnahmesituation in vielen stupenden Details beschreibt, drängt er sich als Filmstoff nicht gerade auf - wie lässt sich diese vordergründig recht undramatische Geschichte in Bilder übersetzen? Julian Pölsler hat es riskiert, er bewegt sich nah an der Vorlage, schwelgt nicht in Naturkulissen, sondern nutzt diese als Gradmesser für Gefühlslagen; darüber hinaus hat er in Martina Gedeck eine beeindruckende Darstellerin zur Seite, die sich ihre Rolle in einem umfassenden Sinne aneignet.

STANDARD: "Die Wand" ist ein Film fast ohne Dialoge: eine besondere Situation für eine Schauspielerin. Wie sind Sie an diese Herausforderung herangetreten?

Gedeck: Wir haben mit ganz konkreten Dingen begonnen. Ich hatte immer irgendwelche Verrichtungen zu tun, Dinge, die ich zuerst banal fand, die sich dann aber als kompliziert entpuppten. Ich dachte zum Beispiel, mit dem Hund durch den Wald zu gehen, das kann nicht so schwer sein! Aber das war es dann doch, weil der Hund auf eine bestimmte Weise mit mir laufen musste: nicht wie ein Spazierhund, er musste sich spielerisch um mich herumbewegen. Ich durfte ihn auch nicht ansprechen, das wäre unrealistisch gewesen. Solche Dinge waren hochkompliziert.

STANDARD: Sie mussten noch ganz andere körperliche, bäuerliche Arbeiten verrichten.

Gedeck: Ja, Kartoffeln einpflanzen, die Kuh pflegen, Heu einholen ... Es hatte manchmal etwas Redundantes, auch Eintöniges. Ich habe mich aber auf eine Art Nullzustand gebracht, jegliche Orientierung auf ein Ziel hin verloren, ohne ungeduldig zu sein. Die Tiere gaben die Struktur vor, in der wir uns bewegt haben, weil man ja vor allem mit ihnen zusammenarbeitete.

STANDARD: Ihre Figur verändert sich in der Isolation radikal. Wie haben Sie sich diesem Prozess ausgesetzt?

Gedeck: Sehr. Da ich keine Sprache zur Verfügung hatte, spielte ich mit geschärften Sinnen: Das war schwierig. Man empfindet beim Spielen immer: Und zu allem, was ich empfinde, muss ich eine Haltung einnehmen. So habe ich mich in Tiefenschichten hinunterbewegt, bis hin zu der Quelle, aus der man schöpft. Das war ungewöhnlich und schön. Zugleich habe ich mich sehr frei gefühlt, weil ich nicht dauernd an Sätze denken musste. Auch gab es keinen Zeitdruck. Manchmal hatte die Arbeit fast dokumentarischen Charakter.

STANDARD: Hat es Sie nicht gestört, dass es kein Gegenüber gibt?

Gedeck: Es gibt immer ein Gegenüber. Das ist wie beim Schreiben. Sie schreiben auch nicht für sich selbst, obwohl Sie allein sind. Und es gibt auch ein seismografisches Gewissen, das einen führt und einem rechtzeitig sagt, wenn's zuviel Nachdruck war. Man ist als Schauspieler ständig in diesem kreativen Dialog, bezieht sich auf etwas, auf den Raum, die Requisiten oder auf innere Bilder ... Zudem hatte ich immer ein Tier an meiner Seite. Und ein ganz wichtiges Gegenüber kann der Regisseur sein. In diesem Fall hatte ich dies: Julian Pölsler hat mich nie allein gelassen.

STANDARD: Das klingt, als hätte es starke Wechselwirkungen mit der Rolle gegeben.

Gedeck: Ich bewege mich schon lange in anderen Welten. Das hängt naturgemäß mit meinem Beruf zusammen. Ich muss mir ja alles ständig vorstellen. In Die Wand sitze ich da und stelle mir vor, dass ich existenziell zutiefst bedroht bin: in einem der touristischen Attraktionspunkte Österreichs.

STANDARD: Ist das dann auch eine Form von Wirklichkeit?

Gedeck: Ja, das ist das Wort dafür. Es ist eine Wirklichkeit, in der ich mich auch bewege, wenn ich keinen Film mache. Lesen ist für mich etwa wie Nahrung für meinen Geist.

STANDARD: Wann haben Sie denn "Die Wand" das erste Mal gelesen?

Gedeck: Das muss in den frühen Achtzigerjahren gewesen sein. Das Exemplar hatte ich noch zu Hause, als die Anfrage von Julian Pölsler kam. Ich fand es damals sehr eindrücklich, obwohl ich vieles nicht verstanden habe, weil ich auch noch zu jung war. Ich habe es dann wieder gelesen, und ein gewisses Grauen hat mich gleich wieder gepackt. Wenn man jung ist, kann man diese Geschichte nicht so verstehen.

STANDARD: Weil man die Figur nicht versteht?

Gedeck: Die Figur verschwindet ja. Das ist das Seltsame, was mit ihr passiert. lch dachte mir, alles, was ich in Haushofers Buch lese, ist ja schon durchleuchtet von der Erfahrung dieser Frau - sie schreibt auf, was sie die zweieinhalb Jahre davor erlebt hat. Sie schreibt relativ sachlich, nicht emotionalisiert. In welches Wesen hat sie sich verwandelt? Diese Frage fand ich unheimlicher als die Wand.

STANDARD: Das Buch beschreibt einen evolutionären Rückschritt ...

Gedeck: ... der auch ein Fortschritt ist. Die Frau bringt Kraft auf, radikal zu werden, zu töten - am Anfang ist sie wie gefangen. Es geht ja nicht nur darum, sich mit der Sterblichkeit zu beschäftigen, sondern auch um das Schuld-auf-sich-Laden, ums Töten. Das Erlebnis dieser Gewalt, die der Natur zu eigen ist, fand ich spannend.

STANDARD: In "Deine schönsten Jahre" von Dominik Graf, einem frühen Film von Ihnen, spielen Sie auch schon eine Frau, die sich ihrem Schicksal widersetzt. Schätzen Sie solche Rollen besonders?

Gedeck: Zuerst hat sich der Film mir gar nicht erschlossen. Dominik Graf sagte an einer Stelle, jetzt trittst du aus der Klinik und brichst zusammen, weil dein Mann verunglückt ist - mach einfach mal! Da habe ich etwas gespielt, was ich erst später im Leben selbst erfahren habe. Wenn ich mir das heute angucke, erinnere ich mich, dass ich ein- fach hineingesprungen bin. Es ist stimmig, obwohl ich es gar nicht wissen konnte. Ich habe mich von meiner Intuition leiten lassen. Von Beginn an kamen solche schwierigen Aufgaben auf mich zu. Und ich konnte nie anders, als sie ernst zu nehmen. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 2.10.2012)