Fiese Schwiegermutter aus Pablo Bergers "Blancanieves".

Foto: Filmfestival San Sebastián

Lehrer-Schüler-Hausfrau-Trio aus Ozons "Dans la maison".

Foto: Filmfestival San Sebastián

Widersprüche oder gegenläufige Geschwindigkeiten, wer weiß das schon so genau? Vergangene Woche hat die spanische Regierung über weitere drastische Sparmaßnahmen debattiert, von denen nicht zuletzt Kulturinstitutionen betroffen sein werden. Auf dem Filmfestival von San Sebastián ließ man sich davon nicht die Feierlaune verderben: Die 60. Ausgabe brachte nicht nur eine stattliche Anzahl an Hollywoodstars in die baskische Stadt - Dustin Hoffman, Tommy Lee Jones, Ewan McGregor und John Travolta, um nur ehrenprämierte zu nennen -, sondern auch internationale Regiegrößen. Zweifellos wichtig für ein A-Festival, um den Anschluss nicht zu verlieren.

Namedropping allein reicht aber umgekehrt nicht aus, um einer Veranstaltung Konturen zu verleihen. Im Wettbewerb tummelten sich zu viele Regisseure mit Renommee, aber unterdurchschnittlichen Arbeiten. Costa-Gavras enttäuschte mit seinem Bankendrama Le Capital, das müde mit dem Klischeebild des eiskalten Finanzjongleurs hantiert. Nicht anders Cannes-Gewinner Laurent Cantet (Die Klasse), der in seiner Joyce-Carol-Oates-Adaption Foxfire von einer rebellischen Mädchengang der 1950er-Jahre erzählt, sich dabei aber in epischer Weitläufigkeit verliert.

Für eine Überraschung sorgte dagegen der Franzose François Ozon, der zuletzt eine allzu geschniegelte Arbeit ablieferte. Dans la maison erinnert in seiner dichtgewobenen, verschachtelten Struktur und in seinem Spiel mit Begehren und Oberflächlichkeiten an frühe Filme des Regisseurs wie Sitcom oder Tropfen auf heiße Steine. Fabrice Luchini spielt einen hinter seiner Verstocktheit frivolen Französischlehrer, der mit einem seiner Schüler, Claude (Ernst Umhauer), eine äußerst ambivalente Arbeitsbeziehung eingeht. In mehreren Briefen liefert der 16-Jährige seinem Mentor Einsichten in die kleinbürgerliche Familie eines seiner Klassenkameraden, von der es dem Nachwuchsliteraten vor allem die Mutter (Emmanuelle Seigner) angetan hat.

Ozons geschmeidige Inszenierung lässt genügend Raum für Doppelbödigkeiten. Wie in einem Luigi-Pirandello-Stück werden Autorenschaft und Eigeninteressen der Verfasser zum eigentlichen Thema des Films. Lehrer und Schüler befinden sich in permanentem Austausch darüber, wie sich Handlung und Stil der Erzählung zu verschieben hätten, wo es mehr Emphase und weniger Ironie braucht - dadurch geraten verbürgte Rollen und die damit verbundenen Machtverhältnisse zunehmend in gefährliche Schieflage. Dans la maison wurde durchaus verdient mit der Goldenen Muschel ausgezeichnet.

Das spanische Kino, im Wettbewerb mit fünf Filmen vertreten, machte vor allem mit Pablo Bergers Blancanieves von sich reden, der den Spezialpreis der Jury erhielt und auch als Oscar-Kandidat erkoren wurde. Nach The Artist erscheint die Idee, in der digitalen Ära einen Stummfilm zu drehen, zwar nicht mehr ganz so originell, doch Berger geht mit seiner Schneewittchen-Adaption durchaus eigene Wege. So feiert der Film mit seiner anachronistischen Form - samt modernen Schnittfolgen - auch eine regionale Kultur.

Denn Berger platziert seine Variante der Grimm'schen Mär mit Gewinn im Andalusien der Stierkämpfer: Es ist die Tochter eines Matadors, die von einer so geldgierigen wie unverschämt bösen Stiefmutter um ihr Glück gebracht wird. Die starken Kontraste übersetzt Berger in visuellen Ideenreichtum - ein weißes Kleid wird einmal, der Trauer halber, schlichtweg in Schwarz umgefärbt. Nebenbei gelingt dem Film eine schöne Ode an jene Gaukler, die dem Kino vorausgingen bzw. eine erste Heimstatt gaben.

Mit The Artist and the Model, für den Fernando Trueba als bester Regisseur geehrt wurde, gab es noch einen weiteren Schwarz-Weiß-Film im Wettbewerb, eine allzu gediegene, kunstschöne Studie um einen Bildhauer und seine Muse im Frankreich von 1943. Ein Zufall - oder doch nicht ganz? Das Kino mied in San Sebastián den Blick auf die Gegenwart, um sich ganz klassisch zu geben. (Dominik Kamalzadeh aus San Sebastián/DER STANDARD, 1. 10. 2012)