Pavlos Arnaoutis: "Die griechische Bevölkerung hat in den letzten Jahren viel gelitten. Viele Operationen werden nicht mehr durchgeführt, wenn es sich nicht um lebensbedrohliche Situationen handelt."

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Griechenland muss sparen, das Gesundheitssystem bleibt dabei auf der Strecke.

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Griechenland droht der Staatsbankrott. Erneut plant das Land ein Sparpaket, diesmal in Höhe von mehr als 11,5 Milliarden Euro. Die Einschnitte treffen besonders das Gesundheitssystem.

Der Staat ist seit langem in Zahlungsverzug gegenüber Apotheken, Ärzten und Lieferanten medizinischer Geräte. Krankenkassen funktionieren nicht mehr. Sozial Schwache können sich die Behandlung in Krankenhäusern nicht mehr leisten. Medikamente gehen langsam aus, Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose und das Nilvirus verbreiten sich seit Ausbruch der Finanzkrise. Doch ohne Wenn und Aber besteht die Troika auf drastischen Sparmaßnahmen. Wie sehr die griechische Bevölkerung darunter leidet und warum er mit dem Schlimmsten rechnet, erklärt Pavlos Aenaoutis, Präsident des Nationalen Verbands für Medizintechnik, Hellasmes, im Gespräch mit derStandard.at.

derStandard.at: Droht Griechenland eine humanitäre Krise?

Arnaoutis: Ohne entsprechende Maßnahmen stehen wir kurz davor. Obwohl die geforderten Sparauflagen nicht umgesetzt werden konnten, hofft Athen auf die nächste Tranche von 31 Milliarden Euro. Doch dieses Geld allein kann nicht die Lösung sein. Das Land braucht neue Investitionen. Doch welcher internationale Investor steckt sein Kapital in ein Land, von dem man nicht weiß, ob es morgen schon vor dem Austritt aus dem Euro steht? In ein Land, in dem Korruption unleugbar eine lange Tradition hat. Doch Korruption ist wie Tango: Es gehören immer zwei dazu.

derStandard.at: Steht das griechische Gesundheitssystem vor der Implosion?

Arnaoutis: Ich möchte das System nicht schlechtreden. Die Menschen, die in den Spitälern arbeiten, sind Helden, große Lieferfirmen in der Rolle der Spender. Doch die Gesamtsituation verschlechtert sich mit jedem Tag. Ändert sich nicht bald etwas, kann man das Schlimmste tatsächlich nicht ausschließen.

derStandard.at: Steuert Griechenland auf die Situation eines Entwicklungslands zu?

Arnaoutis: Das würde ich so nicht sagen. Unsere Ärzte sind exzellent ausgebildet, Notfälle werden immer noch behandelt.

derStandard.at: Wer ins Krankenhaus muss, nimmt am besten seine eigene Bettwäsche mit. Griechen dürfen ihren Arzt nicht mehr frei wählen. Ihnen wird eine Liste mit Medizinern zugeteilt.

Arnaoutis: Das stimmt leider. Dazu kommt, dass Ärzte nur ein bestimmtes Kontingent an Patienten im Monat behandeln dürfen. Die Wartezeit für den Arzt des Vertrauens kann dadurch sehr, sehr lange sein. Auch die Versorgung der Apotheken ist dramatisch. Es fehlt an Medikamenten. Wer nicht sofort zahlt, bekommt nichts. Geld vom Staat? Viele kleinere Apotheken können nur noch eine Notversorgung anbieten, halten aber offen und liegen dem System dadurch zusätzlich auf der Tasche.

derStandard.at: Selbst Geburten im Krankenhaus müssen bezahlt werden?

Arnaoutis: Ein Anteil zumindest. Wie hoch dieser ist, hängt vom jeweiligen Spital ab.

derStandard.at: Dennoch besteht die Troika auf Sparmaßnahmen.

Arnaoutis: Die griechische Bevölkerung hat in den letzten Jahren viel gelitten, viele Opfer gebracht. Seit dem Schuldenschnitt ist der Selbstbehalt für Patienten bei vielen Behandlungen um 50 Prozent gestiegen. Heute werden viele Operationen nicht mehr durchgeführt, wenn es sich nicht um lebensbedrohliche Situationen handelt. Selbst Vorsorgeuntersuchungen müssen vielerorts abgelehnt werden. Dabei sind die Kosten dafür niedrig - nichts im Vergleich zu denen, die langfristig durch den Mangel an medizinischer Versorgung entstehen. Griechenland kann zwar noch irgendwie sein Gesundheitssystem aufrechterhalten, durch die Sparauflagen der Troika stellt sich allerdings die Frage, wie lange noch.

derStandard.at: Das heißt, die Sparauflagen sind kontraproduktiv?

Arnaoutis: Natürlich. Kaum Patienten oder staatliche Gesundheitseinrichtungen können sich den Impfstoff gegen Tuberkulose, Medikamente gegen Malaria oder das Nilvirus noch leisten. Seit dem Sparpaket gibt es eine signifikante Zunahme an diesen Krankheiten. Gerechterweise muss man sagen, dass das nicht nur an den Kosten liegt, sondern auch an der steigenden Zahl an Immigranten seit Ausbruch der Krise. Diese Menschen leben oft auf engstem Raum zusammen, eine Übertragung ansteckender Krankheiten ist oft unausweichlich.

derStandard.at: Wie stark belasten die drakonischen Sparmaßnahmen das Gesundheitssystem generell?

Arnaoutis: Hilfsgelder fließen zwar, doch statt damit akute Probleme zu bekämpfen, wird in langfristige Projekte investiert. Der Sozialversicherungsanstalt IKA wurden im März 2012 mit einem Schlag die staatlichen finanziellen Mittel um die Hälfte gekürzt, um 500 Millionen Euro. Das Sparprogramm bewirkt eine Abwärtsspirale. Die Zulieferer medizinischer Geräte leiden bereits seit mehr als 15 Jahren unter den Zahlungsverzögerungen des öffentlichen Gesundheitssektors. Einige stehen am Rande ihrer Existenz, andere verlangen Vorauszahlungen. Doch griechische Banken vergeben kaum mehr Kredite, und so gehen den Spitälern und Ärzten langsam neben den Medikamenten auch ihre technischen Hilfsmittel aus.

derStandard.at: Gibt es Unterstützung für Lieferfirmen medizinischer Geräte?

Arnaoutis: Als Ausgleich für Zahlungsrückstände haben einige Unternehmen griechische Staatsanleihen erhalten, die durch den Schuldenschnitt für private Gläubiger allerdings mehr als die Hälfte ihres Werts eingebüßt haben. Das ist die Realität. (Sigrid Schamall, derStandard.at, 1.10.2012)