Cartoon: Oliver Schopf

Man sammelt alles, auch Webseiten, Blogs und Netzwerke. Das Buch aber habe ausgedient.

Ende Mai 2010 antwortete Johanna Rachinger, Generaldirektorin der Nationalbibliothek, im STANDARD-Interview auf die Frage, ob es überhaupt noch sinnvoll sei, alles zu sammeln, was gedruckt erscheint, wenn es ohnedies von fast jedem Buch die digitalen Daten gibt: "Ich meine: Ja! Es muss pro Land zumindest eine Bibliothek geben, die von den gedruckten Werken ein Exemplar sammelt. Das ist die Aufgabe einer Nationalbibliothek. Das handhabt man weltweit so - und sollte auch nicht infrage gestellt werden."

Doch Rachinger selbst stellte dieses Prinzip nun nicht nur infrage: Sie erklärte es bei ihrer Pressekonferenz am Freitag mehr oder weniger für obsolet. Die ÖNB sei bereits in Verhandlungen über eine Novelle des Mediengesetzes. Bekanntlich hat jeder Verlag ein "Pflichtexemplar" der ÖNB zur Archivierung zukommen zu lassen. Doch Rachinger möchte in Hinkunft bei Hybrid-Produkten lieber das E-Book sammeln - und nicht mehr die gedruckte Version.

Mit der Abkehr vom bisherigen Dogma hat Rachinger kein Problem: "Die Welt verändert sich", sagte sie. 2025 werde der Großteil aller Bücher nur mehr digital erscheinen. Und darauf müsse sich die ÖNB bestmöglich vorbereiten.

Dieses ominöse Jahr war das eigentliche Thema der Pressekonferenz. Denn die Nationalbibliothek entwickelte mit dem Ziel, "die Wissensgesellschaft von morgen maßgeblich mitzugestalten", Visionen für 2025. Man geht davon aus, dass die Bestände (oder zumindest der Großteil der gegenwärtig 8,2 Millionen Objekte) digitalisiert sein werden. Dieses Projekt verfolgt man schon seit einigen Jahren: Google digitalisiert gegenwärtig den urheberrechtsfreien historischen Bestand.

"Semantisches Web"

Der Schwerpunkt der Sammlungspolitik werde 2025 im Onlinebereich liegen. Und er werde neben digitalen Publikationen auch usergenerierte Inhalte, öffentliche soziale Netzwerke, Blogs und andere Formate, die erst entstanden sein werden, umfassen.

All diese Digitalisate sollen Teil des semantischen Web (Web 3.0) sein: Sie werden mit Zusatzinfos (sogenannten Metadaten) angereichert und mit externen Ressourcen, etwa Geo- und Personendaten, verknüpft. Die Bestände - nicht nur die Bücher, sondern auch die Fotos, Plakate und Karten - sind in einem einheitlichen System erfasst; der Zugriff auf die digitalen wie die digitalisierten Inhalte werde daher einfacher. Als Dienstleister will man mehrere Services anbieten, darunter die Visualisierung von Suchergebnissen in Themenclustern.

Aufgrund der Vernetzung mit anderen Bibliotheken werde man eine effektivere Forschung ermöglichen. Die digitalisierten, in alle Welt verstreuten Papyrischnipsel könnten Rechner zusammenpuzzeln. Und die Forschungsergebnisse will man, da die ÖNB ein "Zentrum der Wissensvermittlung" sei, mithilfe neuer Technologien didaktisch aufbereiten.

Zudem soll es die Volltextsuche auch beim historischen Datenmaterial geben. Der Nutzer werde beispielsweise mit ein paar Klicks alle Presseartikel über den Tod von Kronprinz Rudolf im Jänner 1889 abrufen können. Dazu müsse man aber nicht in die ÖNB kommen: Der Zugriff werde allerorts möglich sein. Und weil die Nationalbibliothek von ihren Werten her "für einen freien Zugang zum Wissen" stehe, stelle man, so der hehre Traum, das Material als "Open Data" der Allgemeinheit uneingeschränkt zur Verfügung.

Trotz E-Books werde es aber noch genügend echte Bücher zu sammeln geben. Den schon seit Jahren geforderten Speicher unter dem Heldenplatz benötige man daher sehr wohl: "Wir sind nächstes oder übernächstes Jahr voll." Die Burghauptmannschaft arbeite gerade an einem Konzept inklusive Tiefgarage für Busse. Dieses soll nicht erst 2025 präsentiert werden, sondern noch im Herbst. (Thomas Trenkler, DER STANDARD, 29./30.9.2012)