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Der Polizei blieb die zunehmende Perfektion der Passkopien des Meisterfälschers nicht verborgen.

Foto: EPA/EDI ENGELER

Sarah Kaminsky:
"Adolfo Kaminsky - Ein Fälscherleben".
Verlag Antje Kunstmann, München 2011

Cover: Verlag Antje Kunstmann

Adolfo Kaminsky erinnert sich an jedes Detail. Zum Beispiel wie er 1944 vergeblich versuchte, den biegsamen und doch festen Schweizer Pass nachzumachen. Bis in den Schlaf verfolgte ihn das Problem, denn von der äußerst dringenden Lösung hingen Menschenleben ab. "Schließlich träumte ich, wie ich vorgehen musste, um die richtige Papierqualität zu erhalten", erzählt der 86-jährige Mann mit dem weißen Vollbart. "Ich flocht eine Mullbinde in den Kartonmix, was ihr genau die richtige Elastizität verschaffte."

Der Gehirnreflex, Namen zu löschen

Ja, Adolfo Kaminsky kann sich in seiner Pariser Sozialwohnung im Schatten des Eiffelturms an alles erinnern - nur die Namen seiner früheren Mitarbeiter wollen ihm nicht mehr auf Anhieb einfallen. "Das ist ein Gehirnreflex, der mir von jener Zeit geblieben ist: Um unter der Folter der Gestapo keine Namen preiszugeben, löschte ich sie unbewusst aus meinem Gedächtnis aus." Das war ziemlich gescheit. Einen seiner Vorgesetzten richteten Hitlers Schlächter in einem Verlies südlich von Paris so übel zu, dass ihn die deutsche Abwehr in Paris nicht einmal mehr verhören konnte. Halb tot wurde der Widerstandskämpfer Cachoud - jetzt ist Kaminsky der Name doch noch eingefallen - vom fünften Stock in den Treppenschacht geworfen.

Viele Jahrzehnte später erzählt Kaminsky mit leiser, milder Stimme. Damals, da war er 18, herrschte Krieg. Frankreich war im Griff der Nazis und ihrer Vichy-Kollaborateure. Adolfos jüdische Mutter stießen sie in der Normandie, wo er aufgewachsen war, lebend aus dem Nachtzug. Sein russisch-argentinischer Vater schärfte dem jungen Färberlehrling ein, wie man sich im Hintergrund hält. Das zahlte sich aus, als er 1943 mit dem Widerstand in Kontakt kam. Er hatte einem Bekannten erzählt, wie man Schriften auf Briefpapier unsichtbar macht. Sogar für die blaue Waterman-Tinte, die damals niemand zum Verschwinden bringen konnte, hatte Adolfo ein Verfahren ausgetüftelt.

Chemische Talente

Man nahm ihn in ein geheimes Labor in einem Pariser Dachstock mit. Dort stellten eine Handvoll Leute falsche Papiere für bedrohte Juden und Résistance-Kämpfer her. "Ich fiel fast um - sie entfernten den Judenstempel mit einfachem Chlor", erzählt Kaminsky. "Ich sagte ihnen, dass der Stempel in ein paar Tagen wieder gelblich aufscheinen werde. Für den Inhaber des Passes war das höchst gefährlich!"

Dank seiner chemischen Talente wusste der junge Lehrling besser Bescheid als die Fälscher der jüdischen Widerstandsgruppe, die in dem Dachlabor in der Pariser Rue des Saints-Pères werkten. Adolfo wurde über Nacht engagiert - und fast ebenso schnell Laborchef. Seine älteren Kollegen kopierten seine Methoden, etwa wenn er eine alte Singer-Nähmaschine in ein Stanzgerät für Passbildklemmen verwandelte. "Wir hatten nur einfache Mittel, doch musste die Kopie perfekt sein", sagt Kaminsky und zieht ein paar selbst geschnitzte Stempel und einen alten Schweizer Pass aus der Schublade. "Alles andere kam einem Todesurteil gleich."

10.000 Dokumente für Kinder

Bald überzog das Mansardenlabor ganz Frankreich, die Nordzone über Belgien bis nach Holland mit falschen Papieren. Wie viele es waren, weiß Kaminsky nicht. "10.000 Dokumente für Kinder, bedeutend mehr für Erwachsene", schätzt er heute.

Der Polizei blieb die zunehmende Perfektion der Passkopien nicht verborgen. Wie wild suchte sie in Paris den oder die genialen Meisterfälscher. "Mein Vorteil war, dass sie nach erfahrenen Profitechnikern mit gewaltigen Maschinen forschten, nicht nach dem halben Kind, das ich damals war", freut sich Kaminsky. Wenn er am Morgen das - als Malatelier getarnte - Labor aufsuchte, ging er zuerst um den Häuserblock, um Spitzel zu entdecken. Dem Metzger, Bäcker, der alten Nachbarin durfte nichts auffallen. Die besten Freunde musste er belügen. Wenn Adolfo einen Verbindungsmann in einem Hotel traf, öffnete er zuerst das Fenster im Flur des ersten Stockwerks, um notfalls rausspringen zu können, wenn sich der Treffpunkt als Falle herausstellen sollte.

Den eigenen Pass gefälscht

Abgesehen von zwei, drei Kontakten kannte im ganzen Widerstand niemand die fünf Fälscher. In Paris ging Adolfo die Identitätskarten zum Teil selbst verteilen. Die Adressen lernte er auswendig, bevor er sich auf die Tour machte. Einmal geriet er in der Metro in eine Ausweiskontrolle bewaffneter Vichy-Milizionäre. Sein eigener Pass, auf den Namen Julien Keller lautend, machte ihm keine Sorgen - er hatte ihn selbst gefälscht. In seiner Tasche trug er aber fünfzig gefälschte Dokumente, und diesmal nicht im doppelten Boden. "Und was haben Sie da drin?", fragte der Milizionär, ihm den Ausgang versperrend. Kaminsky musste die Tasche öffnen. Zuoberst lag ein Vesperbrot. Darunter lagen die Pässe. Dem 18-Jährigen stand das Herz still. "Ich dachte, jetzt sei Schluss."

Doch der Milizionär beließ es beim Blick auf das Sandwich. Er stieg aus, atmete in der eisigen Luft des Friedhofs Père-Lachaise ein paar Mal durch. Dann hastete er weiter, von Adresse zu Adresse, bis die Sperrstunde anbrach. Nun schlich er sich auf der Schattenseite der Straße weiter, immer auf der Hut vor der Polizei und den Vichy-Schergen. "Ich dachte an all die Leute, die in ihren Wohnungen auf die Papiere warteten. Ich hatte kein Recht, mich erwischen zu lassen."

Er bastelte, improvisierte

Aber auch, wenn er heil von jeder Tour zurückkehrte, blieb Adolfo gehetzt: In Drancy, der Nordpariser Durchgangsstation, fuhren die Eisenbahnzüge in immer schnelleren Abständen in Richtung deutsche Vernichtungslager ab. Das geschah jedes Mal, wenn tausend Internierte beisammen waren. Rettung vor den Razzien bot nur die Flucht, dazu waren falsche Papiere nötig. Es war ein Wettlauf mit der Zeit - das heißt, gegen den Tod. Adolfo hatte nur einfache Mittel zur Verfügung; er bastelte, improvisierte. Oft bezahlte er aus dem eigenen Sack neues Material. Dafür sparte er am eigenen Essen.

Trotzdem arbeitete er wie wild bis in die Nacht hinein. "Mein größter Feind war nicht die Gestapo, sondern die Müdigkeit." Die Rechnung war einfach: In einer Stunde stellte er dreißig Blankopapiere her. Wenn er eine Stunde länger arbeitete, rettete er also dreißig Menschen das Leben.

Beim Erzählen bleibt nur sein rechtes Auge starr - ein Glasauge. Im Winter 1944 arbeitete Kaminsky so lange über seinem Mikroskop, bis ihm das Auge für immer den Dienst versagte.

Als Radio London einmal Nachrichten über den Vormarsch der Alliierten in Nordafrika sendete, ordneten die deutschen Besatzer wütend eine Großrazzia in Paris an. Die Résistance erhielt Wind davon - und Adolfo den Auftrag, 900 Dokumente für 300 Kinder herzustellen: Pässe natürlich, aber auch Identitätskarten, Lebensmittelmarken, Taufurkunden sowie eine Menge Passierscheine für die Begleiter, das Ganze in drei Tagen. Wahnsinn. Zuerst kümmerte sich Adolfo wie immer um die Kinder. Er schiebt zwei Freinächte ein. 600 Papiere sind geschafft, dann 700. Beim 812. wird ihm schwarz vor den Augen, er fällt im Labor um, muss sich eine Stunde Ruhe gönnen. Aber in Drancy fahren die Züge weiter ab: in Richtung Auschwitz - ohne Papiere, ohne Hoffnung.

Verborgene Fälschervergangenheit

Manchmal weint Kaminsky bei seinem Bericht, knapp 70 Jahre später. Noch lange nach Kriegsende konnte er nicht darüber sprechen. Auch in seinem Umkreis wusste kaum jemand von seiner Fälschervergangenheit. Denn der junge Mann mit der dicken Brille machte im Untergrund weiter. Noch im Krieg heuerte ihn die französische Armee an. Als er aber später Karten für Militäreinsätze in Indochina herstellen sollte, quittierte der überzeugte Antikolonialist den Dienst.

Kaminsky fälschte Ausweise für KZ-Überlebende, die nach Palästina wollten. Den Zionismus lehnte er aber als überzeugter Atheist ab. Jahre später erstellte er Papiere für die algerische Widerstandsorganisation FLN im Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich. Plötzlich war er für alle ein Verräter - für die Israelis, für die Franzosen. Zeitweise musste er sich absetzen. Aber auch in Algerien arbeitete er nicht nur offiziell als Fotograf, sondern auch als Fälscher. Zurück in Paris, versorgte er auch Anti-Apartheid-Kämpfer des ANC und andere afrikanische Befreiungsbewegungen mit gefälschten Papieren. Auch in einem Dutzend südamerikanischer Staaten und in Griechenland half er den Diktaturgegnern.

Ein Fälscherleben

Diese Aktivitäten musste er vor dem französischen Geheimdienst verbergen. Selbst seine Ehefrau Leila, Tochter eines algerischen Imams, wusste nicht alles. Irgendwann verlangte aber seine Tochter Sarah Auskunft über die heimlichen Tätigkeiten ihres Vaters. Kaminsky hielt sie jahrelang hin, doch als er über 80 war und längst keine Papiere mehr fälschte, ließ sie nicht mehr locker. Kaminsky brach das Schweigen, Sarah erfuhr alles. "Ich habe zwei Jahre Nachforschungen und etwa zwanzig Interviews gebraucht, um Adolfo Kaminsky kennenzulernen, der für mich einfach 'Papa' war", schreibt sie im Vorwort ihres Buches "Ein Fälscherleben".

Erst jetzt nimmt die Weltöffentlichkeit Kenntnis von dem Mann, der zehnmal mehr Juden und Widerstandskämpfer rettete als Oskar Schindler, der Held eines Spielberg-Films. Kaminsky weist den Vergleich als "geschmacklos" von sich. Er suchte nie den Ruhm, Geld auch nicht. Für kein einziges gefälschtes Papier nahm er je einen Centime an.

Warum engagierte er sich überhaupt, auf die Gefahr für Leib und Leben hin? "Wenn jemand ohne Verteidigung ist, kann man nicht wegschauen", sagt Kaminsky. "Solange andere Leute Probleme haben, bin ich nicht berechtigt, mich für etwas anderes zu interessieren." Seine Tochter Sarah fügt an: "Wenn Sie mich fragen, steckt darin eine Portion Schuldgefühl - das Gefühl des Überlebenden, der selbst zweimal in Drancy gelandet war und nur dank seines argentinischen Passes davonkam, das zweite Mal mit viel Glück."

Nicht mehr im Geschäft

Mag sein. Der Großzügigkeit tut das keinen Abbruch. Kaminsky gab immer, nahm nie. Die paar Ansteckorden aus Algerien und nun auch Frankreich hat er "irgendwo in einer Schublade verlegt". Dank für seine Fluchthilfe erhielt er kaum je, da er seine Tätigkeit auch nach dem Krieg verbergen musste. Erst seit dem Buch seiner Tochter melden sich vereinzelt Kinder und Enkel von Geretteten.

Kaminsky denkt eher daran, dass auch heute viele Menschen Flucht- oder Fälscherhilfe bräuchten. "Die Welt verändert sich nicht", meint der alte Mann lakonisch. Würde er heute den Sans-Papiers helfen? "Mit falschen Papieren kann man fliehen oder dem Faschismus entkommen, aber man kann darauf nicht sein Leben aufbauen", antwortet er ablehnend. Er sei ohnehin nicht mehr im Geschäft. Er ist alt, geht am Stock, macht noch immer Fotos. Aber als er unlängst nach Hause kam und vor der Tür einen Mann warten sah, machte er zur Sicherheit noch eine Runde um den Wohnblock, bis der weg war. Man weiß ja nie. (Stefan Brändle, DER STANDARD, 29./30.9.2012)