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Starke Szenen, schräge Dialoge, beunruhigende Zustände: Clemens J. Setz.

Foto: EPA/ANDREAS PESSENLEHNER

Irgendwann gewöhnt man sich gegen alles. Ein zentraler Satz, den Clemens J. Setz als Zitat einer seiner Figuren im hochinteressanten Roman "Indigo" zuschreibt. Das ansprechend gestaltete Buch, für dessen bedeutsame Typografie und Einband die Autorin Judith Schalansky verantwortlich zeichnet, bereitet ein besonderes Leseabenteuer, eine Mischung aus Erschrecken über das Erzählte und Vergnügen über das Fiktionsspiel.

Mit großer Einbildungskraft führt Setz nicht nur ein "Indigo-Syndrom" und dessen Auswüchse vor Augen, sondern setzt auch einen Protagonisten seines eigenen Namens in Szene. Dadurch verwischt er die für die Fiktionalität wesentlichen Grenzen zwischen Autor, Erzähler und Figur. Seine Erfindung stattet er mit Wirklichkeitssignalen aus, mit Fotos "aus dem Archiv des Autors", mit Zitaten aus vorgeblichen und tatsächlichen Publikationen, Briefen und Notizen. Zugleich stellt er sie jedoch kaum merklich gegen eine tatsächliche Realität - als ob es etwa in der Südsteiermark eine "weltberühmte Seilbahn" geben könnte ...

Ein junger Mathematiker namens Clemens Johann Setz hat 2006 kurz in der Internatsschule Helianau für "Indigo-Kinder" am Semmering unterrichtet. Deren mysteriöse Störung wird bisweilen mit radioaktiver Verstrahlung in Verbindung gebracht. Sie verursacht bei allen, die ihnen nahekommen, heftige Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerzen, so dass diese Kinder, auch vonein ander, in Distanz und besonderer Isolierung gehalten werden.

Dem neuen Lehrer fallen seltsame Verhaltensweisen wie das "Zonenspiel" oder dunkle Vorgänge auf. Oft müssen sich Kinder maskieren und werden abtransportiert; niemand will sich dazu äußern. Was die "Relokationen" bedeuten, wohin sie führen und was ein gewisser Ferenc damit zu tun hat, das ist eines der Rätsel in diesem packenden Roman, der auch ein verborgenes Leben in tiefen Tunnelsystemen anklingen lässt.

Ein Teil ist aus der Ich-Perspektive des Mathematikers geschildert, der über die Indigo-Kinder zu recherchieren beginnt und in "National Geographic" einen Beitrag "In der Zone" über einen Fall in der (fiktiven) südsteirischen Kleinstadt Gillingen publiziert. Die Erfindung hat die Autorpräsentation des Klappentextes kontaminiert: (Der reale) Clemens J. Setz habe im Helianau-Center gearbeitet, heißt es da, seit 2008 "treten bei ihm die Spätfolgen der Indigo-Belastung auf".

Ein zweiter, 2021 spielender Strang von "Indigo" bringt die Er-Perspektive eines "Dingo", wie die unter dem Syndrom Leidenden abschätzig genannt werden: "Robert Tätzel, 29, ausgebr." steht über dem zweiten Kapitel und meint nicht "ausgebrochen", sondern "aus gebrannt", al so von der Störung nicht mehr befallen.

Robert erfährt in der ebenso umsichtig wie vorsichtig gestalteten Science-Fiction-Welt von 2021, dass sein ehemaliger Mathematiklehrer, der sich von der Belletristik abgewandt und zuletzt Science-Fiction-Romane geschrieben habe, gerade in einem Mordprozess vom Vorwurf, einem Tierquäler die Haut abgezogen zu haben, freigesprochen worden sei, glaubt jedoch nicht an die Unschuld dieses Setz.

Der Roman, in dem immer wieder kurze Geschichten aus verschiedenen Zeiten und Weltgegenden referiert, zitiert, reflektiert werden, besticht mit seiner vielschichtigen Konstruktion, mit originellen Sichtweisen. Angespielt finden sich zahlreiche Texte, Songs, Filme - oft Sätze von Batman zu Robin -, vor allem Ausschnitte aus der "rotkarierten" und der "grünen" Mappe der Figur Clemens Setz. Dieser gibt, wie Robert Tätzel, Objekten Leben und Charakter, hört Dinge reden: "Draußen, in der Abenddämmerung, spielten nur mehr einige wenige Au tos Fangen"; die "ganze Nacht un terhielten sich die Bäume mit rauschenden Gebärden über dich und lasen deine Gedanken."

Es geht um den Umgang mit dem "Störenden", dem "Abweichenden", um Zonen und Ausgrenzung, Quälen und Töten (ein starkes Motiv sind grausame Tierversuche). Dabei zeigt sich das Verhalten gegenüber "gruseligen" Randgestalten als ebenso gruselig. Bei der "Verwahrung" von "Schädlichen" fällt der extreme Vergleich: "Endlösung der Nachbarskindfrage", sagt Robert, obwohl er zuvor gemeint hat, das Wort sei "verboten, radioaktiv".

Die Menschen und die Wörter scheinen kontaminiert. Die Welt "ist ein kranker Ort", erklärt die dubiose Ferenc-Figur. Indigo bietet ein Fantasiegebilde der Verunsicherung, zugleich eine Verunsicherung des Fantasiegebildes, auch grafisch im wechselnden Schriftbild. Das oft zitierte Buch "Das Wesen der Ferne" der Kinderpsychologin Häusler-Zinnbret, die der Roman-Setz zu Beginn aufsucht, gibt es in zwei Auflagen und als "zwei Wahrheiten".

Der reale Autor Clemens J. Setz hat eine adäquate, genaue Sprache gefunden; er scheint sogar schiefe Vergleiche in seinen früheren Büchern zu ironisieren ("Ich brach ab, weil der Vergleich misslungen war"). Starke Szenen, schräge Dialoge, beunruhigende Zustände, zudem eine neue Variante im Verfahren mit autobiografischen Elementen. Faszinierende Literatur. (Klaus Zeyringer, Album, DER STANDARD, 29./30.9.2012)