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Foto: APA / Rolf Vennenbernd

Der kleine Bub wackelt durch den Raum. Greift nach einem Spielzeughandy, drückt es ans Ohr, plappert drauf los. Es ist der erste Tag, den er ohne seine Mutter in der Kinderkrippe verbringt. Das gespielte Telefonat mit Mama hilft, die Trennung zu ertragen. Der Bub ist gerade einmal 18 Monate alt.

Wilfried Datler, Bildungswissenschafter an der Uni Wien, untersuchte in der vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten "Wiener Kinderkrippen Studie", wie ein sanfter Übergang von der Betreuung zu Hause in die Krippe gelingen kann.

Die sogenannte Eingewöhnung in die Krippe ist eine heikle Phase. Sie gehört fachgerecht begleitet. In dem jungen Alter verspüren die Kinder Angst und Unsicherheit, wenn Mama oder Papa außer Sichtweite sind. Trennung von der primären Bezugsperson, weiß die Bindungsforschung, bedeutet für das Kleinkind Stress.

Untersucht wurde unter anderem der Beitrag, den Kleinkinder selbst zur Bewältigung des Stresses leisten. "Wir waren erstaunt darüber, welche Strategien die Kleinen dazu einsetzen", sagt Datler. "Sei es durch symbolisches Spiel, Hartnäckigkeit oder Charme, um die Aufmerksamkeit der Betreuerinnen auf sich zu ziehen", sagt der Leiter der Forschungseinheit für Psychoanalytische Pädagogik.

104 Kinder im Alter von eineinhalb bis drei Jahren hatte sein Team begleitet. Von der Eingewöhnung bis zum sechsten Monat - an jenem Ort, der so ganz anders funktioniert als das Zuhause. Gefilmt wurden Interaktionen und Verhalten. In Fragebögen erhoben sie die Beziehung zwischen Eltern und Kind. Für Einzelfallstudien wurden elf Kinder minutiös unter die Lupe genommen. Projekt-Koleiterin Lieselotte Ahnert vom Institut für Entwicklungspsychologie ließ die Werte des Stresshormons Cortisol im Speichel der Kinder messen.

Beziehungsaufbau

Konsens in der noch jungen Krippenforschung ist, dass der Trennungsstress abgefedert werden kann. Nicht nur durch eine kleinere Gruppengröße. Zentral ist eine gute Beziehung zur Betreuerin, ebenso wie eine sanfte Eingewöhnung, in die die primäre Bezugsperson während der ersten Tage eingebunden ist. Sie hilft dem Kind beim Aufbau einer sicheren Beziehung zur Pädagogin und zieht sich erst dann zurück. Sogenannte Übergangsobjekte wie Kuscheltiere oder Schnuller erleichtern die Trennung. Die Pädagoginnen sollten den Gefühlszustand der Kleinen erkennen können, ihnen helfen, ihre Gefühle zu regulieren. Allein sind sehr junge Kinder dazu nicht in der Lage.

Ein überraschender Befund der Studie war, wie viele Kinder nach der Trennung weiterhin still litten. Diese "still leidenden Kinder" fallen kaum auf, ziehen sich zurück, nehmen am Gruppengeschehen nicht teil, sind emotional flach. "Denen müssen wir besonderes Augenmerk schenken", sagt Datler. Die Schwierigkeit dabei sei, ihr Leid überhaupt zu erkennen. Für eine Pädagogin, die eine ganze Gruppe im Auge haben muss, ein schwieriges Unterfangen.

Weiters zeigten die Beobachtungen, dass die Kleinkinder länger mit dem Trennungserleben zu kämpfen haben als bisher angenommen. "In Belastungssituationen taucht die Sehnsucht nach Mama oder Papa wieder auf, oft auch noch sechs Monate nach der Eingewöhnung", sagt Datler.

Der Stress der Kleinkinder ließ sich auch messen. Die Cortisolwerte waren auch bei jenen erhöht, die zuvor schon Erfahrung in Spielgruppen oder ähnlichen Situationen gemacht hatten - allerdings in Anwesenheit der Vertrauensperson. Zur messbaren Belastung führte auch eine abrupt erfolgte Eingewöhnung, also dann, wenn sich die Bezugsperson zurückzog, bevor die Beziehung zur Betreuerin aufgebaut war.

Langfristig unbeschädigt

Eine nicht fachgerechte Eingewöhnung kann, sagt Entwicklungspsychologin Lieselotte Ahnert, langfristig die Mutter-Kind-Beziehung belasten. "Bei längerer Eingewöhnung aber bleibt die Beziehung unbeschädigt." Langfristig würde auch die Erziehungspartnerschaft vom sanft gestalteten Übergang profitieren. Eltern überzeugen sich vom kompetenten Umgang der Betreuerin mit ihren Sprösslingen, bauen Vertrauen zur Einrichtung auf.

Die Studie zeigte allerdings auch, dass in den meisten Einrichtungen das Wissen um eine wissenschaftlich fundierte Eingewöhnung fehlt. Nina Hover-Reisner, Projektkoordinatorin und selbst ausgebildete Kindergärtnerin: "Thematisiert werden muss, wie die Eingewöhnung individuell von allen Beteiligten erlebt wird."

Individuelle Verläufe

Denn kein Kind reagiert gleich auf den Übergang. So manche Mutter und so mancher Vater haben beizeiten selbst mit Trennungsangst zu kämpfen. Nimmt das die Pädagogin wahr, können ein paar aufmunternde Worte die Eltern entlasten - und die Eingewöhnung erleichtern. Dazu müsse das Personal aber speziell ausgebildet sein.

Zentral sei auch die Fähigkeit der Pädagogin, über die eigenen Gefühle zu reflektieren. "Die Konfrontation mit der schmerzhaften Trennung ist etwas, das sich nicht unterrichten lässt", sagt Hover-Reisner.

Es brauche daher intensive, kontinuierliche Weiterbildung. Und zwar des ganzen Teams, nicht nur einzelner Pädagoginnen. Auch die Leitung müsse ins Boot geholt werden. Ein Weiterbildungskonzept, das den Erkenntnissen der Studie Rechnung trägt, legten Datler und sein Team bereits vor.

Die Eingewöhnung in die Kinderkrippe könne eine "bewältigbare Herausforderung" für die Kleinkinder werden - vorausgesetzt, dem Wissen aus Kleinkind-und Krippenforschung werde Rechnung getragen, sagt Datler. Dann könnte der Gewinn für die Kinder höher und die Belastung geringer sein. (Erika Müller, DER STANDARD, 26.9.2012)