Mädchen und Frauen des Vokalensembles Carmina Slovenica aus Maribor zwischen zehn und 20 realisierten mit Heiner Goebbels dessen neuestes Werk.

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Wahrheit sei immer eine "persönliche, individuelle Lebenswahrheit", sagt Ibsenpreisträger Heiner Goebbels.

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40 Stimmen der Carmina Slovenica erzählen beim Steirischen Herbst von Abschied und Neubeginn.

An den großen Umbruch in ihrer Heimatregion, das Ende Jugoslawiens, kann sich keine der 40 Sängerinnen erinnern. Die jungen Frauen und Mädchen des renommierten Chors Carmina Slovenica sind alle zwischen zehn und 20 Jahre alt. Trotzdem prägt die Geschichte der unmittelbaren Umgebung zwingend auch die Art und Weise, wie man aufwächst.

Und dieses Entstehen von etwas Neuem, dieser Aufbruch in eine ungewisse Zukunft wohnt auch fernab jeder politischen Situation jungen Menschen inne, wenn sie irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsensein versuchen, festen, sicheren Boden unter ihre Füße zu bekommen.

When the mountain changed its clothing, das neue Werk von Musiker, Komponist und Regisseur Heiner Goebbels, der erst vor wenigen Wochen mit einem der wichtigsten Theaterpreise der Welt, dem mit 330.000 Euro dotierten Internationalen Ibsenpreis, ausgezeichnet wurde, erzählt auch von solchen Übergängen.

Die Jury begründete ihre Entscheidung, dem 60-Jährigen den Ibsenpreis zuzuerkennen, damit, dass er "ein wahrhafter Erneuerer" sei und nicht nur die Kunstwahrnehmung des Publikums verändert habe, sondern auch bei zahlreichen anderen Künstlern entscheidende Wirkung hinterlassen habe.

Politische Spielregeln

Für die Produktion When the mountain changed its clothing arbeitete der künstlerische Leiter der Ruhrtriennale mit besagtem Vokalensemble aus der Nachbarstadt von Graz, Maribor, der aktuellen Kulturhauptstadt Europas, zusammen. Goebbels fühlte sich zunächst vom Festivalmotto "Die Wahrheit ist konkret", einem durch die Geschichte weitergereichten Zitat von Brecht, der damit Lenin zitierte, der seinerseits Hegel zitierte, nicht unbedingt angesprochen, wie er in einem Gespräch mit der Intendantin des Steirischen Herbstes, Veronica Kaup-Hasler, im Festival-Magazin herbst. Theorie zur Praxis erklärt.

Denn Wahrheit sei für ihn immer etwas Persönliches: "Die Wahrheit muss sich immer einstellen, sie muss sich als persönliche, individuelle Lebenswahrheit oder Entdeckung für die Zuschauer herausstellen und kann nicht etwas sein, das präsentiert oder repräsentiert wird." Diesen Gedanken nahm Goebbels auch in der Arbeit mit dem bemerkenswerten slowenischen Chor, der von Karmina Silec geleitet wird, mit. Es wurde mit dem Choreografen, Florian Bilbao, ein Modell geschaffen, in dem sich die Mädchen und Frauen ein Stück weit selbst organisieren konnten.

Den Sängerinnen wurden weder vonseiten der Regie, noch von der Choreografie strikte Szenenabfolgen vorgegeben. Man ließ viel mehr aus der "kollektiven Kreativität" (Goebbels) so etwas wie "Spielregeln" entstehen. Für den Regisseur ist das ein "hochpolitischer Akt", wenn man die- se choreografischen Spielregeln auch auf Gesellschaftspolitik umlegt. Und wohl auch eine wahrhaft konkrete Form von Mitbestimmung und Selbstermächtigung eines (Bühnen-)Raums.

Doch was erwartet das Publikum musikalisch und textlich an dem ungewöhnlichen Abend über den Abschied von Kindheit und Vergangenheit? Die Autoren, mit deren Werken Goebbels hier arbeitete, sind Jean-Jaques Rousseau, Joseph Eichendorff, Adalbert Stifter, die von Goebbels besonders geschätzte Gertrude Stein, Alain Robbe-Grillet, Marlen Haushofer, Marina Abramovic und Ian McEwan.

Auch die Musik für dieses Musiktheaterstück, das in Koproduktion mit der Ruhrtriennale und Maribor 2012 entstand, ist ein Tanz zwischen den Zeiten: Partisanengesänge aus der Tito-Zeit fehlen ebenso wenig wie Klassik, oder Popmusik, die ja auch ein schönes akustisches Bild der Pubertät sein kann, und natürlich eigene Kompositionen von Heiner Goebbels.

When the mountain changed its clothing feierte am Mittwoch seine Uraufführung in der Jahrhunderthalle Bochum. Von der Ruhrtriennale geht es dann gleich nach Graz zur Österreichischen Erstaufführung. (Colette M. Schmidt, Spezial, DER STANDARD, 28.9.2012)