Die neuere Forschung hat erkannt, dass man innere Zustände, Gedanken und Erinnerungen von Tieren stärker einbeziehen muss, um zu verstehen, was sie tun, sagt der Philosoph Markus Wild.

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Krähen benutzen zum Beispiel Werkzeuge, um ihre Ziele zu erreichen.

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Krähen bauen Werkzeuge, um an Futter zu gelangen. Delfine verfügen über die Intelligenz von Kleinkindern. Elefanten können lange Zeit um ein verstorbenes Familienmitglied trauern. Wie intelligent sind eigentlich unterschiedliche Tierarten? Und welche moralischen Konsequenzen müssten wir als Menschen aus den Erkenntnissen der Wissenschaft ziehen? Ist unser Umgang mit Tieren historisch überholt?

Der Schweizer Philosoph Markus Wild plädierte bei seinem Vortrag bei dem diesjährigen Philosophicum Lech für eine zoologische Wende in der philosophischen Anthropologie. Der Mensch sei sehr wohl ein Tier, argumentiert er: "Den Mensch allein aus seiner Rationalität heraus zu erklären greift zu kurz: Was sind dann all jene Menschen, denen diese Fähigkeit zur Rationalität fehlt?"

derStandard.at: Forscher haben in den vergangenen Jahren neue Erkenntnisse über die geistigen Fähigkeiten von Tieren gewonnen. Wird das gebührend in die Tierethik eingebaut?

Wild: Es gibt einen immer stärkeren Konsens, dass unser Umgang mit Tieren ethische Fragen aufwirft. Ich bin der Meinung, es ist eine gesellschaftliche Verpflichtung, dass wir mehr Energie in Alternativen investieren müssen.

derStandard.at: In Österreich wird im Moment zum Beispiel intensiv über eine Neufassung des Tierversuchsgesetzes diskutiert. 

Wild: Schmerzen müssen wir ernst nehmen. Das betrifft auch den Konsum der Tiere. Ich habe erst unlängst ein Gutachten darüber verfasst, dass auch Fische schmerzfähig sind. Ich wäre unter diesem Gesichtspunkt dafür, dass man mit Anglern schärfer ins Gericht geht.

Bei Tierversuchen beginnt der Umgang schon bei der Haltung der Tiere, mit denen man experimentiert. Wenn die Tiere Stress haben, wird es zum Beispiel auch bei Stressversuchen keine exakten Resultate geben. Hier ist es besser, nach Alternativen völlig ohne Tiere zu suchen.

derStandard.at: Es gibt mittlerweile zahlreiche Studien, die die Intelligenz gewisser Tierarten mit jener von Kleinkindern vergleichen. Wie laufen solche Tests ab, wie kann man das vergleichen?

Wild: Man interessiert sich für die Evolution der Intelligenz. Unter diesem Aspekt ist es interessant zu vergleichen, was Kleinkinder und was Tiere können.

Einen Test macht man zum Beispiel mit Delfinen und Kindern, aber auch Erwachsenen. Man bringt den Delfinen eine Unterscheidung zwischen zwei Tönen bei. Sie müssen sich durch Knopfdruck zwischen einem hohen und einem tiefen Ton unterscheiden. Wenn sie es richtig machen, bekommen sie eine Belohnung.

Dann führt man einen Ton ein, der genau dazwischen liegt. Die Kinder und Delfine bekommen nun die Möglichkeit anzugeben, ob sie unsicher sind. Dafür bekommen sie eine kleine Belohnung. Wenn sie es richtig wissen, bekommen sie aber eine große, und wenn sie es gar nicht wissen, gar keine Belohnung. Beide, also Delfine und Kinder, zögern kurz vor einer Entscheidung. Diese Unsicherheit über die eigenen Fähigkeiten ist vielleicht so etwas wie Bewusstsein, also auch der "Geist der Tiere". Das ist hier die spannende Erkenntnis.

derStandard.at: Was umfasst für Sie der "Geist der Tiere"?

Wild: Der englische Ausdruck "mind" ist unmissverständlicher. Denn der deutsche Begriff "Geist" mutet im Alltag etwas altmodisch an. Er umfasst Bewusstsein, Wünsche, Motive und Absichten. Einige Tiere können laut neueren Forschungen zum Beispiel Pläne schmieden, an ihren eigenen Fähigkeiten zweifeln oder andere Tiere täuschen.

derStandard.at: Wann hat die philosophische Beschäftigung mit dem Geist der Tiere begonnen?

Wild: In der europäischen Philosophie sind Bewusstsein und Intelligenz der Tiere seit der Antike ein Thema. Bei Platon gab es die ersten Überlegungen. Aristoteles hat sich systematisch damit beschäftigt, was Tiere können und was Tiere überhaupt sind. Für ihn war es ein wichtiges Problem, wie viel man Tieren an geistigen Fähigkeiten zuschreiben kann, ohne sie zu sehr mit dem Menschen zu vergleichen. Wenn man sie aber zu weit vom Menschen wegbringt, macht man sie zu bloßen Gegenständen. Diese Unsicherheit zeichnet eigentlich das Tier in der gesamten Geschichte der Philosophie aus.

derStandard.at: Einige Philosophen setzen die Sprachfähigkeit als Grundbedingung für geistige Leistung voraus. Sie schließen das eher aus. Wieso?

Wild: Im 20. Jahrhundert hat die Philosophie angefangen, verstärkt Selbstbewusstsein oder Vernunft über die Sprache zu analysieren. Mein Interesse an Tieren ist unter anderem dadurch begründet, dass ich wissen will, wie stark Denken und Bewusstsein sprachunabhängig sind.

Es gibt bereits viele Studien darüber, dass Tiere zu erstaunlich intelligenten Leistungen fähig sind und folglich höhere Bewusstseinsformen haben. Daher kann das meiner Meinung nach nicht nur mit Sprache zusammenhängen.

derStandard.at: Es gibt auch Gegner dieser Überlegungen. Der amerikanische Philosoph Donald Davidson meint, dass Tiere "Reagierer" und Menschen "Begreifer" sind. Wie lässt sich dann zum Beispiel Trauer bei Elefanten erklären?

Wild: Davidson steht in der Tradition des Rationalismus. Die Idee ist: Vernunftfähigkeit gibt es nur bei Wesen mit Sprache. Denn die Sprache schafft erst die Distanz zwischen uns und der Welt. Tiere seien nur auf Nützlichkeit und Überleben bedacht.

Begriffe wie "Begreifer" und "Reagierer" sind meiner Meinung nach zu platt und fangen die Komplexität nicht ein. Das spiegelt etwas wider, was leider noch immer gang und gäbe ist: Man spricht von "dem Tier" und "dem Menschen". Aber unter "dem Tier" steckt eine enorme Bandbreite von biologischen Spezies, aber auch von kognitiven oder intelligenten Fähigkeiten.

derStandard.at: Wie sieht die Forschung über die Emotionalität von Tiere aus?

Wild: Charles Darwin hat über den Ausdruck von Gefühlen bei Tieren gearbeitet. Im Bereich der Biologie oder Psychologie gab es unmittelbar danach Menschen, die an seine Arbeit - die noch heute Nachklang findet - angeknüpft haben.

Es gab auch einige sogenannte Tierpsychologen, die methodisch sehr unkontrolliert über Bewusstsein, Intelligenz und Innenleben von Tieren geforscht oder, besser gesagt, spekuliert haben. Das bringt unsere heutige Forschungsarbeit noch immer ein bisschen in Verruf.

Das Präziseste, was es danach gab, war der Behaviorismus. Leider, denn er reduzierte alles, was Tiere können, auf Verhalten und antrainierte Reiz-Reaktions-Gesetze. Der Tenor war: Eigentlich kann ja alles ohne irgendeine geistige Leistung der Tiere erklärt werden.

derStandard.at: Für Sie spielt episodisches Lernen eine Schlüsselrolle bei Überlegungen zur geistigen Leistung von Tieren. Welche Erkenntnisse gab es in diesem Bereich?

Wild: Der kanadische Psychologe Endel Tulving hat den Begriff des episodischen Gedächtnisses gemeinsam mit einem Patienten geprägt. Dieser konnte zwar wunderbar lernen und dadurch Schach und Instrumente spielen. Aber wenn man sich vorgestellt hat und am nächsten Tag wiederkam, hatte er keine Ahnung mehr. Das heißt, er konnte sich an bestimmte Dinge erinnern, die nicht spezifische Erlebnisse von ihm selbst betrafen. Ihm fehlte eben genau jenes episodische Gedächtnis: wer, was, wo, wann.

Es gibt nun Versuche, Tiere in gleiche Reizsituation zu schicken und dann ihr Verhalten zu vergleichen. Die einzige Erklärung für Abweichungen ist, dass sie einen inneren Zustand, einen Gedanken, eine Erinnerung haben - mehr als nur Instinkt. Es kommt ein kognitiver, intelligenter Zusatz dazu. Orang-Utans bewahren zum Beispiel Geräte auf, wenn sie wissen, dass sie noch einmal etwa eine Büchse bekommen.

derStandard.at: Was könnte es den Orang-Utans ermöglichen, so zu handeln?

Wild: Der niederländische Ethologe Nikolaas Tinbergen hat gesagt, wir können an das Tierverhalten vier Fragen stellen: Welcher Mechanismus löst das Verhalten aus? Wie entwickelt sich das Verhalten im Lauf der individuellen Reife? Was trägt das Verhalten zum Überleben bei? Und wie ist es historisch oder evolutionär entstanden? Interessant ist meiner Meinung nach, dass innere Zustände gar nicht vorkommen: Was denkt sich das Tier dabei?

In der neueren Forschung hat man herausgefunden, dass man stärker auch innere Zustände, Gedanken und Erinnerungen von Tieren einbeziehen muss, um zu verstehen, was sie tun. Die Erklärungen von Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen reichen nicht mehr aus.

derStandard.at: Wir messen mit zweierlei Maß: Haustieren wie Katzen und Hunden gestehen wir Gefühle und Denkfähigkeit zu. Bei Nutztieren wird das ausgeblendet, wir reduzieren sie auf Produktionseinheiten. Scheuen wir einen Vergleich, weil uns vielleicht nicht gefallen würde, was wir widergespiegelt bekommen?

Wild: Ich habe kürzlich mit einem Mitarbeiter des Bundesamts für Veterinärwesen in der Schweiz gesprochen. Dieser Beamte meinte, wenn die Leute tatsächlich in die Schlachthöfe gehen würden, würde der Fleischkonsum rapide sinken.

Ich glaube das zwar schon. Aber ich denke, es geht darüber hinaus. Wir haben ziemlich ausgefeilte Strategien, die eine Art "doublespeak" und "doublethink" ermöglichen, also ein beschönigendes, verharmlosendes Denken und Sprechen. Wenn wir Kälber sehen, lösen sie mit ihrem Kindchenschema etwas aus. Dennoch werden sie von einigen Menschen gegessen. Ich denke, es ist die emotionale Reaktion selbst, die uns ausblenden lässt, dass wir auch ein instrumentelles Nutzverhältnis zu Tieren haben. Wir durchlaufen schon beim Heranwachsen ein emotionales Training. (Julia Schilly, derStandard.at, 3.10.2012)