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Ziegler kritisiert, dass nur über akute Krisen und nicht über den "strukturellen Hunger" und seine Gründe berichtet wird.

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Ein Drittel des Werkes wurde noch vor seinem Erscheinen herausgestrichen.

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Wien - Als "Waffe im Aufstand des Gewissens" möchte der Schweizer Soziologe Jean Ziegler sein neues Buch "Wir lassen sie verhungern" verstanden wissen. Denn "Hunger ist der Skandal unserer Zeit", sagt der frühere UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung im APA-Interview. Und obwohl ein Drittel des Werkes noch vor seinem Erscheinen herausgestrichen wurde - offenbar war der Inhalt zu brisant - ist er damit zufrieden: "Endlich kann ich sagen, wer die Halunken sind".

Ziegler wird nicht müde, zu erklären, wer seiner Ansicht nach für das "organisatorische Verbrechen" verantwortlich ist: Die Spekulanten an den Börsen, die transnationalen Konzerne, die "bestimmen wer stirbt und wer hungert", so der 78-Jährige. Schuld würden aber auch die Herrschenden "in den Präsidentschaftspalästen, die korrupten Hunde in Afrika, in Asien und so weiter" tragen.

Endlich die Wahrheit sagen

Nachdem er nun nicht mehr als Sonderberichterstatter tätig sei, müsse er mit diesen Leuten nicht mehr verhandeln und könne endlich die Wahrheit sagen. Eigentlich gehörten die Spekulanten vor ein Internationales Tribunal gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, "stattdessen blüht aber der Banditismus", empört sich Ziegler.

"Ein Kind das stirbt, jetzt, wo wir reden, wird ermordet", sagt Ziegler. Aber weil Hunger eben "menschengemacht" sei, könne er auch von Menschen "gebrochen und eliminiert" werden, lässt das nunmehrige Mitglied des beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrates etwas Optimismus aufkommen.

Presse als Schlüsselfaktor

"Wir leben in einer kannibalischen Weltordnung", konstatiert Ziegler, doch auch die "die stärksten Mauern fallen durch ihre Risse", zitiert er Kubas Revolutionshelden und Guerillaführer Che Guevara. Bei dem Bruch dieser Weltordnung spiele die Presse ein große Rolle.

Die Medien seien "stille Komplizen des täglichen Massakers" und würden ebenso wie die Politik großteils von den Neoliberalen beherrscht. Ziegler kritisierte das Fehlen von Kausalanalysen, werde doch zumeist nur über akute Krisen und nicht über den "strukturellen Hunger" und seine Gründe berichtet. (Mehr dazu - Jean Ziegler: Berichterstattung fehlt oft Kausalität)

Hoffnung Zivilgesellschaft

Gefragt, was der einzelne Bürger machen kann, antwortet der Schweizer: "In einer Demokratie gibt es keine Ohnmacht." Der Finanzminister müsse gezwungen werden, bei dem nächsten Treffen der Weltbank für eine Totalentschuldung der ärmsten Länder zu stimmen, der Landwirtschaftsminister müsse für ein sofortiges Ende des Dumpings sorgen und das Parlament zur Eliminierung des Börsengesetzes gezwungen werden, meint Ziegler.

Große Hoffnung lege er nicht in die Parteien, sondern das neue historische Objekt, die Zivilgesellschaft. Diese sei sehr stark, weil sie viele verschiedene Bewegungen und Bürger aus allen Klassen vereine.

Neun Prozesse verloren

Ziegler, der nach eigenen Angaben aufgrund von Prozessen wegen Aussagen früherer Bücher rund 6,6 Millionen Franken (5,46 Millionen Euro) Schulden hat, ist trotz der Zensur eines Teiles von "Wir lassen sie verhungern" zufrieden und froh, dass das Buch überhaupt erscheinen konnte. Vor allem brisante Schilderungen über genaue Verstrickungen und Vorgehensweisen einzelner Konzerne im und am globalen Lebensmittelmarkt hätten herausgenommen werden müssen, weil es sich dabei um rechtliche Grauzonen handle.

Manche Vorwürfe gegen internationale Konzerne hätten wohl vor Gericht wegen mangelnder Beweise nicht standgehalten, so der Schweizer. Neun Prozesse, die er wegen seines Buches "Die Schweiz wäscht weißer" "am Hals hatte", wie Ziegler es nennt, hat er verloren.

Aufstand des Gewissens

Der Aufstand des Gewissens, den Ziegler mit seinem aktuellen Buch zum Leben erwecken und unterstützen will, sei nahe. Wann genau er stattfinden soll, darauf wollte sich der Globalisierungskritiker nicht festlegen. Es könne morgen beginnen, aber auch noch viel länger dauern. Diese Prozesse hätten eine ganz eigene Zeitrechnung. Denn in der Gesellschaft zirkuliere der Wille zur Freiheit, so Zieger. Der Mensch wolle nicht in einer Finanzdiktatur leben, die Leichen produziert. Alle Revolutionen hätten so begonnen. "Ich bin ein Marxist und glaube daran, dass wir selbst die kannibalische Weltordnung ändern müssen, sonst macht es keiner". (APA/Christina Schwaha, 25.9.2012)