Dickleibigkeit beschäftigt die Wissenschaft. Bei der Suche nach den Ursachen von Übergewicht haben sich zwei Lager gebildet. Im British Medical Journal erschien kürzlich eine Zusammenfassung der wissenschaftlichen Forschungshypothesen, die der Frage "Was sind die Hauptgründe für Fettleibigkeit - unsere Gene oder die Umwelt?" auf der Spur sind. Einigkeit herrscht darüber, dass Übergewicht nur als Kombination aus Veranlagung und gesellschaftlichen Bedingungen erfasst werden kann. Die entscheidende Frage ist, in welchem Verhältnis diese beiden Größen zueinanderstehen. Timothy Freyling, Genetiker an der Universität Exeter: "Genetische Faktoren sind die treibende Kraft für Adipositas in ihrer heutigen Ausprägung." Das Körpergewicht ist zwischen 40 und 70 Prozent Veranlagungssache, weiß man aus Zwillingsstudien. John Wilding, Mediziner von der Universität Liverpool, hält hingegen die Veränderungen in den Ernährungs- und Lebensgewohnheiten für ausschlaggebend. "Das rasante Ansteigen von Adipositas in den letzten 30 Jahren kann nicht durch genetische Veränderungen verursacht sein."
Auch an der Med-Uni Wien beschäftigt man sich mit dem Thema, konkret erforscht Anton Luger, Leiter der klinischen Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel, die Appetitregulation. Auf dem von Luger organisierten Kongress der Europäischen Gesellschaft für Neuroendokrinologie (ENEA) unlängst in Wien wurde dem Phänomen der zunehmend übergewichtigen Gesellschaft viel Platz eingeräumt. So referierte John Kopchik, Molekularbiologe an der Ohio University, über den Zusammenhang zwischen Fettleibigkeit in einigen US-Bundesstaaten und den dort herrschenden Konsumgewohnheiten. Weder die Anzahl verkaufter Schokoriegel noch die Dichte der Fastfood-Ketten, sondern die Menge konsumierter Softdrinks steht in Relation zur Adipositas-Prävalenz. Zuckerhältige Getränke dürften bei genetischer Vorbelastung eine entscheidende Rolle spielen.
Hunger und Energie
Lässt sich diese Prädisposition im Vorfeld ablesen? "Nein", nur sehr seltene Formen von Fettleibigkeit seien monogenetisch, also auf eine einzige genetische Veränderung zurückzuführen, etwa der Mangel am Sättigungshormon Leptin. Darüber hinaus sind aber mehr als 30 Polymorphismen, also weitere genetische Veränderungen bekannt, die Adipositas prädisponieren, aber nur einen geringen Anteil haben, sagt Luger. Er beschäftigt sich mit der von Hormonen gesteuerten Appetitregulation. Das im Magen-Darm-Trakt gebildete Ghrelin hat hier eine Schlüsselfunktion. "Appetit und Sättigung funktionieren in einer Art Yin-Yang-Prinzip, bei dicken Menschen wird Ghrelin unterschiedlich reguliert", erklärt er. Sicher ist, dass Hunger und Energiebedarf miteinander gekoppelt sind und über eine Hirnregion, den Hypothalamus, gesteuert werden. Dort werden auch weitere mit Hunger und Energiehaushalt in Verbindung stehende Funktionen und Signale aus anderen Teilen des Körpers integriert, etwa auch Insulin aus der Bauchspeicheldrüse oder Leptin, das im Fettgewebe gebildet wird.
Der Entdecker des Leptins, Jeffrey Friedman, war ebenfalls vergangene Woche auf der Konferenz in Wien und demonstrierte, wie sehr Hormone interagieren. Leptin spielt zum Beispiel auch bei der Reproduktionsfähigkeit einer Frau eine wichtige Rolle, weil es die Reifung der Follikel im Eierstock beeinflusst.
Appetitanreger und -zügler
Anton Luger und sein Team arbeiten daran, die Ausschüttung vom Appetitanreger Ghrelin beeinflussen zu können. Das könnte sehr dünne und schwache Menschen zum Essen anregen. "Auf Intensivstationen ist das Körpergewicht ein wichtiger prognostischer Faktor fürs Überleben", sagt Luger. Hormonelle Gegenspieler von Ghrelin (die dem Körper Sättigung signalisieren) könnten dicken Menschen helfen, Hungergefühle zu reduzieren. Derzeit versucht Luger mit den Methoden der funktionellen Magnetresonanztomografie jene Veränderungen in Hirnregionen sichtbar zu machen, die in der Hunger-Satt-Schaukel beteiligt sind.
Worüber sich Forscher einig sind: Hunger ist nicht rational gesteuert und Adipositas kein individuelles Schicksal, sondern ein gesellschaftlich verursachtes Problem: Fastfood ist billig, große Nahrungsmittelkonzerne führen Konsumenten durch irreführende Werbebotschaften hinters Licht, und die Menschen bewegen sich immer weniger. Freyling fordert "eine radikale Strategie, die von entsprechenden Gesetzen abgesichert werden muss". Konkret seien es Maßnahmen, die die Nahrungsmittelhersteller und deren Vermarktung regulieren und eine Politik, die aktive Lebensführung unterstützt. Die Zeit drängt: Adipositas ist bereits eine Epidemie. (Karin Pollack, DER STANDARD, 24.9.2012)