Leonore Rachelle Brecher im Jahr 1923 an der Biologischen Versuchsanstalt, sitzend in der Mitte. Rechts neben ihr Leopold Portheim, links Paul Weiss im weißen Laborkittel und ganz links sitzend: BVA-Gründer Hans Przibram.

Privatarchiv Eisert

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Das Vivarium, eines der weltweit modernsten biologischen Forschungsinstitute im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Foto: Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Unterschrift Brechers auf einem Brief, in dem sie am 17. März 1938 ersucht, weiter für das Vivarium tätig sein zu dürfen.

Foto: Leonore Brecher

Versuche Brechers über die Verfärbung von Kohlweißlingspuppen.

Foto: Leonore Brecher
Foto: Leonore Brecher

Es hat lange genug gedauert, ehe auch die heimischen Universitäten anfingen, sich den dunkleren Kapiteln der eigenen Geschichte zu stellen. Die Zeit nach dem "Anschluss" und die Vertreibung oder gar Ermordung vieler Wissenschafter ist an vielen Hochschulen mittlerweile recht gut aufgearbeitet. Lücken gibt es freilich noch immer, etwa über den Antisemitismus vor 1938 und die Kontinuitäten nach 1945.

Auch Forscherinnen, die zu Lebzeiten aus Misogynie und/oder Antisemitismus diskriminiert und nach ihrem Tod lange vergessen wurden, erfuhren in den vergangenen Jahren ihre späte Anerkennung. Mittlerweile gibt es Stipendien, Programme und Hörsäle, die nach den Physikerinnen Lise Meitner und Marietta Blau benannt sind oder an die Romanistin Elise Richter erinnern, die im KZ starb. Dazu kommen einschlägige Sammelbände wie "Wissenschafterinnen in und aus Österreich" und Datenbanken wie zum Beispiel biografiA.at.

Dennoch ist über viele frühere Forscherinnen weiterhin so gut wie nichts bekannt und in Österreich noch kaum eine Zeile geschrieben worden – wie etwa über Eleonore Brecher, über die einzig die Wissenschaftshistorikerin Brigitte Bischof 2008 einige Absätze verfasste. biografiA hingegen verzeichnet lakonisch: "Zoologin und Erwachsenenbildnerin, 1886 – ?". Das Fragezeichen am Ende findet sich auch in den meisten spärlichen, lückenhaften und zum Teil irreführenden Netz-Einträgen.

Ein fortschrittliches Forschungsinstitut

Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass auch die Geschichte jenes Instituts, an dem Brecher vornehmlich tätig war, skandalöserweise immer noch nicht umfassend aufgearbeitet ist. Die Rede ist vom Vivarium, einer der fortschrittlichsten Forschungsstätten, die Österreich im 20. Jahrhundert hatte. Der offizielle Name der 1902 gegründeten Einrichtung lautete programmatisch "Biologische Versuchsanstalt" (BVA), ins Leben gerufen wurde sie von drei jüdischen Wissenschaftern: dem jungen Zoologen Hans Przibram und den beiden Botanikern Wilhelm Figdor und Leopold von Portheim, die einen Gutteil ihres erheblichen Privatvermögens in damals modernste Laborinfrastruktur (wie Temperaturkammern) steckten, um große Fragen der Biologie experimentell zu beantworten.

Doch auch die Forschungsstruktur des Vivariums, das bis zu seiner Zerstörung 1945 am Beginn der Prater Hauptallee stand, war innovativ: Es wurde interdisziplinär und international gearbeitet, Gastforscher kamen aus aller Welt nach Wien, um entweder mitzuarbeiten oder sich vom Institut etwas abzuschauen, das in der Folge von New York (im American Museum of Natural History) bis Moskau (im Institut für Experimentalbiologie am Zoo) als Vorbild diente. Und produktiv war man noch dazu: Zwischen 1914, als Przibram und Kollegen das Vivarium der Akademie der Wissenschaften schenkten, und 1939 publizierten BVA-Mitarbeiter 284 wissenschaftliche Studien.

Der heute bekannteste Forscher des Vivariums ist der exzentrische Zoologe Paul Kammerer (der "Krötenküsser"), der an Amphibien die Erblichkeit erworbener Eigenschaften zu beweisen suchte. In der Zwischenkriegszeit noch viel berühmter als Kammerer war der Physiologe Eugen Steinach, der mit seinen am Vivarium durchgeführten Untersuchungen zum Weltstar der Hormon-, Sexual- und Verjüngungsforschung avancierte und fünf Mal für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Und ein gewisser Karl von Frisch, mit Konrad Lorenz Österreichs letzter naturwissenschaftlicher Nobelpreisträger (1973), schrieb am Vivarium bei Hans Przibram 1910 seine Dissertation über den Farbwechsel der Fische.

Eine Besonderheit der BVA war aber auch, dass dort viele Frauen forschen konnten. Eine von ihnen war Leonore Brecher, die genau gleich alt war wie von Frisch und so wie dieser – bloß einige Jahre später und an anderen Tieren – über den Farbwechsel und Farbanpassungen bei Tieren arbeitete. Am 14. Oktober 1886 in der Stadt Botoșani geboren (heute in Nordost-Rumänien gelegen), maturierte Brecher 1906. Da wenig später ihre Eltern starben, begann sie erst Jahre später dank der Unterstützung durch Verwandte mit dem Studium der Naturwissenschaften an der Universität Czernowitz.

Wissenschaft als "Lebensaufgabe"

Bald nach dem Wechsel an die Uni Wien arbeitet die jüdische Forscherin ab August 1915 im Vivarium mit. 1916 promoviert sie bei Przibram, wieder ein Jahr später legt sie die Lehramtsprüfung ab und absolviert das vorgeschriebene Probejahr am Mädchenrealgymnasium in der Albertgasse 38. Ihre wahre Leidenschaft gehört aber der Forschung. In der Biologischen Versuchanstalt arbeitet sie als unbezahlte Assistentin Hans Przibrams unter anderem an der Frage, ob und wie sich die Puppen von Kohlweißlingen, aber auch Ratten farblich an ihre Umwelt anpassen und welchen Faktoren und Mechanismen dafür ausschlaggebend sind.

Als sie von ihren Verwandten nicht mehr unterstützt wird, bittet Brecher 1920 bei der Akademie der Wissenschaften, der die Vivariums-Gründer 1914 ihre Anstalt geschenkt haben, um Anstellung. Es ist wohl auch daran gedacht, dass sie "Krötenküsser" Paul Kammerer ersetzen soll, dem nach dem Ersten Weltkrieg das bescheidene Assistenten-Gehalt des Vivariums nicht mehr reicht, um sich und seine Familie ernähren zu können. Brecher scheitert und kann nur mit privaten Stiftungsgeldern kärglich weiterfinanziert werden. Daneben hält sie ab 1920/21 am Volksheim Ottakring, der damals wissenschaftlich ambitioniertesten Volkshochschule Europas, mehrere Biologie-Kurse ab. Im Oktober 1922 ist sie Gründungsmitglied des Verband der Akademikerinnen Österreichs (VAÖ), der von Elise Richter ins Leben gerufen wird.

Brecher ist in dieser Zeit enorm produktiv: 1922 gelingt ihr mit Przibram eine Bestätigung von Kammerers umstrittenen Experimenten der Erblichkeit von Farbveränderungen, die durch Umwelteinflüsse herbeigeführt wurden. Ende 1923 später kann sie bei ihrem Antrag auf Habilitation an der Universität Wien auf weit mehr als zwanzig Veröffentlichungen verweisen, allein 15 davon erschienen in zwei der führenden Fachzeitschriften ihres Forschungsgebiets, dem "Archiv für Entwicklungsmechanik" (heute: "Development Genes and Evolution") und der "Zeitschrift für Vergleichende Physiologie" (heute: "Journal of Comparative Physiology A").

Sie ist eine der am fleißigsten publizierenden Biologinnen ihrer Zeit (und wird mit ihren Puppenfärbungsexperimenten bis heute zitiert), davon kann sie aber nicht leben. Die Lehrbefugnis würde ihr ein wenig zusätzliches Geld einbringen, doch der Antrag wird Jahr um Jahr verschleppt. Brecher geht in der Zwischenzeit mit einem Stipendium der "American Association of University Women" für ein Jahr nach Rostock. Dann muss sie wieder zurück nach Wien.

Die gescheiterte Habilitation

Im Juni 1926 kommt es dann zur ersten richtigen Sitzung der Habilitationskommission – einer Farce sondergleichen. Ihr Mentor Hans Przibram setzt sich für Brecher ein, doch gegen die antisemitische Kommissionsmehrheit ist er chancenlos. Angeführt wird die vom Paläobiologen Othenio Abel, einem der frühesten und rabiatesten Nazis an der Uni Wien, der "bereits in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg im Kampf gegen die drohende Verjudung und Überfremdung an der Wiener Universität stets in der ersten Reihe" gewesen sei, wie es 1944 heißt.

Abel befindet, Brecher sei "nicht geeignet, mit den Studenten zu verkehren" und würde nicht die entsprechende Autorität aufrechterhalten können. Ihm schließen sich die Biologen Jan Versluys und Franz Werner an – die Mehrheit. Der deutschtümelnde Holländer Versluys wird später von Wien aus Mitglied der Nationaal-Socialistische Beweging der Niederlande. Werner, der ab 1934 bei der NSDAP ist, schreibt wenige Monate nach der endgültigen Ablehnung Brechers über die Biologen in der BVA: "It is a very badly smelling people there."

Zur gleichen Zeit wie Brecher scheitert ihr jüdischer Vivariums-Kollege Paul Weiss an der Habilitationsnorm, obwohl Przibram mehr als ein Dutzend Gutachten in- und ausländischer Kapazitäten vorweisen kann, die sich euphorisch über die Arbeiten des erst 28-Jährigen äußern. Der bestenfalls zweitrangige Biologe Versluys hält Weiss' Theorie aber für falsch – und damit ist für die Professoren der philosophischen Fakultät auch dieser Fall erledigt; sie stimmen gegen ihn ab. Weiss verlässt 1927 mit einem Stipendium Wien, emigriert in die USA und wird nach 1945 einer der einflussreichsten Neurobiologen seiner Generation. 1979 erhält er (u.a. gemeinsam mit Richard Feynman) die National Medal of Science, die wichtigste Wissenschaftsauszeichnung der USA; einer seiner Dissertanten ist Roger Sperry, Nobelpreisträger 1981.

Odyssee mit tragischem Ende

Brechers weiterer Lebensweg hingegen wird zur Odyssee ohne Happy End. 1926 bis 1928 forscht sie am Pathologischen Institut der Berliner Universität bei der Biologin Rhoda Erdmann; 1929 bis 1933 mit verschiedenen Stipendien zuerst am Biomedical Institute der University of Cambridge, dann wieder in Rostock und bis 1933 – unterstützt durch die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler – in Kiel. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten muss sie zurück in Wien, wo sie wieder am Vivarium arbeitet und unter schwierigsten Verhältnissen zahlreiche weitere Publikationen verfasst.

Nach dem "Anschluss" wird sie so wie weitere 15 Mitarbeiter – die halbe BVA-Belegschaft – aus rassistischen Gründen entlassen und erhält keinen Zutritt mehr zum Institut. "Die Juden wurden nach dem Umbruche entfernt, und soweit Gelder der Biologischen Versuchsanstalt (private und staatliche) für persönliche Arbeiten der Juden Verwendung fanden, Arier mit diesen Geldern bezahlt", heißt es in einem Schreiben der Akademie der Wissenschaften. Betroffen ist natürlich auch Hans Przibram, der Gründer, Financier, Stifter und Leiter des Vivariums.

Brecher gelingt es, kurz in die walisische Hauptstadt Cardiff zu emigrieren. Der Forschungsaufenthalt ist aber unbezahlt. Danach wird ihre Lage immer verzweifelter, zumal die "Society for Protection of Science and Learning" (Gesellschaft zum Schutz von Wissenschaft und Lehre) ihr weder finanzielle Unterstützung noch eine dauerhafte Arbeitsstelle vermitteln kann.

Über die letzten Lebensjahre der völlig vergessenen Forscherin, von der sich im Staatsarchiv, dem Archiv der Universität Wien und dem Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften nur ein paar signierte Briefe finden ließen, ist wenig bekannt. Sie unterrichtete ab 1940 so wie einige ihrer BVA-KollegInnen in der jüdischen Schule in der Kleinen Sperlgasse, wie der Historiker Markus Brosch in seiner Diplomarbeit herausgefunden hat.

Das Fragezeichen vom Anfang allerdings, das lässt sich am Ende leider auflösen: Leonore Brecher, zuletzt wohnhaft in der Rembrandtstrasse 32/18, wird am 14. September 1942 von Wien ins Vernichtungslager Maly Trostinec deportiert und dort vier Tage später ermordet. (Klaus Taschwer, derStandard.at, 23. 9. 2012)