Mit 16 veröffentlichte er seinen Erstling Crazy und wurde schlagartig zum Wunderkind ernannt. Mittlerweile ist er 30. Er spricht langsam und gewählt, scheut die Romantik nicht und gibt auch dem Zeigen von Schwäche Raum.

Leberts sechster Roman Im Winter dein Herz handelt von einem Trio, das einen Roadtrip durch Deutschland macht, während das ganze Land im durch Pillen hervorgerufenen Winterschlaf versunken ist.

STANDARD: Herr Lebert, Ihr Buch ist vor knapp sieben Monaten erschienen. Wie sieht die Bilanz Ihres Rückblicks aus?

Benjamin Lebert: Das Buch hat mir aus einer Dunkelheit geholfen, es ist das Resultat einer schweren Lebenskrise, insofern ist mein Blick auf es ein liebevoller. Was die Aufnahme belangt, so hat das Feuilleton es nicht gemocht, es hat aber viele positive Stimmen gegeben in meinem Umfeld.

STANDARD: Warum sollte man das Buch im Spätsommer lesen?

Lebert: Man sollte eigentlich nie ein Buch lesen, sondern nur, wenn einem danach ist. Es ist so, dass unser Empfinden für die Jahreszeiten nicht immer einhergeht mit der tatsächlichen Jahreszeit. Ich trage manchmal einen Sommer in mir, wenn ich durch flockendurchwirbelte Straßen laufe, und ebenso kann mein Herz vom Winter erfasst sein, wenn ich einen Sommer erlebe. Dementsprechend ist es sehr selektiv, was wir wahrnehmen und lesen. Man kann die Zeitlosigkeit, die Proust mit der Madeleine beschreibt, genau so sehen. Wenn ich eine Jahreszeit wählen müsste, dann wäre ich ein Herbst, der Monat November. Ein Laternenleuchten, das vom Nebel umfasst ist.

STANDARD: Sie sind eher in der Romantik beheimatet?

Lebert: Ja, obwohl das immer vermessen ist, so etwas zu sagen. Die Menschen sagen immer schnell, sie wären in einer Zeit beheimatet oder sie wissen viel über eine Zeit, aber letztendlich wissen wir nur über die Zeit Bescheid, in der wir leben.

STANDARD: Ihre Werke stehen auch nach eigener Aussage immer unter Kitschverdacht. Wo liegt die Grenze zwischen poetischer Schönheit und Kitsch?

Lebert: Dessen bin ich mir bewusst. Kitsch ist mir fast immer lieber als Zynismus, insofern kann ich mit diesem Vorwurf durchaus leben. Kitsch definiert sich durch das Scheinheilige, dass etwas lieblicher dargestellt wird, als es in Wahrheit ist. Zum Beispiel ein glimmender, dicker Weihnachtsmann im Schaufenster eines Elendsviertels. Das ist Kitsch. Die Grenze dazu ist subjektiv. Man ist immer sehr schnell mit diesem Wort, es ist wie ein Schwamm, der alles aufsaugt. Mir ist es manchmal wichtiger, ein Wort stehenzulassen, das sich wahr ausnimmt, als es zu umschreiben, nur um dem Kitschverdacht zu entgehen. Viele Schriftsteller verstecken sich auch hinter Geistigkeit und hinter langen Sätzen, sie sind durchaus klug, aber gleichzeitig geht es manchmal darum, das Kluge wegzulassen. Ein ganz einfacher Satz ist "Ich liebe dich", dahinter verbirgt sich eine ganze Welt. Er ist manchmal so einfach zu sprechen und beliebig, und manchmal ist er so schwer über die Lippen zu bekommen. So ähnlich verhält es sich mit dem Schreiben für mich. Bertolt Brecht hat gesagt "die einfachsten Worte müssen genügen, um jemandem das Herz zu zerfleischen".

STANDARD: "Ins Unglücklichsein kann man sich verlieben". Können Sie das näher erläutern?

Lebert: Da ist ein deutlicher Riss, der durch die Gesellschaft geht, man muss eine immense Stärke zur Schau stellen. Wenn man sich die Profile auf Facebook ansieht, wird ja vornehmlich der Mensch dargestellt, der man zu sein wünscht, da ist immer ein großes Leben und Lächeln. Ähnlich verhält es sich in der Arbeitswelt, da wird einem abverlangt, dass man stark und gesund sein muss. In gleichem Maße ist ein großes Unglück über allem wahrzunehmen, das auch ein wenig ein selbstverliebtes Unglück ist. Die Menschen sind wie Schlafwandler unterwegs, die einen Traum von einem Unglück träumen. Deshalb habe ich auch das Bild mit dem Winterschlaf gewählt.

STANDARD: Wann wachen sie auf?

Lebert: Das kann ich nur ganz schwer ausleuchten, ob das jemals geschehen wird. Ich glaube, dass eine Möglichkeit des Aufwachens wäre, dass man dieses Unglück als eine Freiheit betrachtet. Vornehmlich den jungen Männern wird ja oft vorgeworfen, wie weinerlich sie sind. Es nützt nichts, wenn dieses Wissen darüber zu noch mehr Leid führt. Es ist so, dass diese Männergeneration vielleicht auch so larmoyant ist, weil sie es zum ersten Mal sein kann, weil die Möglichkeit dazu gegeben ist, dass man auch einmal etwas sacken lässt und sich hingibt, und vielleicht wäre ein Ausweg daraus schon, dass man es als Freiheit betrachtet, dass man die Wahl hat im weitesten Sinne.

STANDARD: Auf den ersten Seiten steht der Satz "Bekanntlich führt einen das Leben immer an der Nase herum". Inwiefern glauben Sie an die Lenkung des eigenen Schicksals?

Lebert: Ich glaube, dass man einen ganz schmalen Weg gehen kann, auf dem man sich bewegen kann und auf dem man selber Entscheidungen trifft. Das ist natürlich eine große philosophische Frage, inwiefern wir selbst entscheiden können. Ich glaube, dass die Wirklichkeit daraus entsteht, was wir selber entscheiden können, und dem, was wir nicht entscheiden können, aus Letzterem entsteht aber der größere Beitrag.

STANDARD: Ist die Idee des Winterschlafs von Ihnen? Gibt es literarische Wegweiser?

Lebert: Ich denke, letzten Endes stammt keine einzige Idee von einem selbst, sondern kommt aus weiter Ferne zu einem und ist schon von vielen anderen durchdacht worden. Ich habe das Bild gewählt, um eine Unzugänglichkeit auszudrücken, die mir in unserer Zeit vorherrschend zu sein scheint, und auch dieses Schlafwandlerische, das vielen Menschen zu eigen ist. Meine literarischen Helden sind natürlich ein weites Gebiet, sie bewohnen ganze Landstriche und Welten. Was die schreiberischen Tugenden anbelangt, bin ich eher in der amerikanischen Literatur zu Hause, die sehr handlungsorientiert ist. Hemingway, der gesagt hat, jedes gestrichene Adjektiv sei ein Sieg, ist eigentlich der größte Held für mich. Sein karges Scheiben, auch wenn das mit dem Schwärmerischen der Romantik gar nicht in Zusammenhang zu bringen ist, ist letztlich mein Ansinnen.

STANDARD: Sie schildern eine Essstörung samt Therapie, die autobiografisch motiviert ist. Wie sehen Ihre Erfahrungen mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie aus?

Lebert: Ich glaube nicht, dass jenes Leid, das bei Kindern und Erwachsenen sichtbar wird, sich sehr voneinander unterscheidet. Ich denke, dass es sehr viel mit Heimatlosigkeit zu tun hat, weil man so unwahrscheinlich viel gleichzeitig zu leisten hat. Es ist eine Rastlosigkeit, die da zum Ausdruck kommt, die den Blick verirrt. Wenn man die Zahlen nennt, darf man nicht außer Acht lassen, dass sie nicht immer so gut erfasst wurden wie heute. Fakt ist, dass man es jetzt so benennt. Man ist aber oft zu schnell mit dem Bezeichnen von Krankheiten. Jedenfalls ist es ganz schlimm, dass man teilweise vier oder fünf Monate warten muss, ehe man in eine Klinik kommt. Da gilt es, schleunigst Abhilfe zu schaffen.

STANDARD: Was ist das adäquate Mittel gegen Traurigkeit?

Lebert: Ich glaube, glücklich zu sein ist letzten Endes die einzig wahre Intelligenz, die es gibt. Ich habe sehr viele Intellektuelle in meinem Leben getroffen, und die meisten tun sich sehr schwer damit, glücklich zu sein. Deshalb weiß ich nicht, ob das Intellektuellsein der richtige Weg zum Glücklichsein ist. Ich glaube, sich mit den Geschehnissen auszusöhnen, so esoterisch das auch sein mag, ist ein Weg zum Glück für mich. Die Traurigkeit wahrzunehmen und trotzdem ein Lächeln zu tragen, das ist für mich Glück. (Timon Mikocki, Album, DER STANDARD, 22./23.9.2012)