Die Sogwirkung atemloser Sätze und Schneisen möglicher Deutungen: David Albahari.

Foto Eichborn / Rocco Thiede

Vielleicht kommt ja die Zeit, wo man sich vor einem Brief fürchtet, weil in der E-Mail-Ära nur noch Wahnsinnige Briefe schreiben. In David Albaharis neuem Roman mit dem raffiniert schmucklosen Titel Der Bruder ist es bereits so weit. Dabei bekennt sich sein Protagonist, der Belgrader Schriftsteller Filip, zur Welt des Buches und versteht von Computern erklärtermaßen nur wenig. Dieser Widerspruch wird freilich nur jemanden befremden, der mit dem Erzählkosmos des großen serbisch-jüdischen Schriftstellers Albahari nicht vertraut ist. In seinem Werk bricht immer wieder das Surreale in minutiös genau fokussierte Realitätspartikel ein.

Filip sitzt im "Brioni" - natürlich nicht in Doderers Café im 20. Wiener Gemeindebezirk, das sich erst vor einigen Jahren in ein modernes Restaurant verwandelt hat, sondern in einer ehemaligen Spelunke des Belgrader Stadtteils Zemun, die sich ebenfalls zu einer auswechselbaren internationalen Gaststätte gemausert hat. Und er trifft dort seinen Bruder Robert, der in Argentinien als Jude aufgewachsen ist, in Australien lebt und von dem er bis dato nichts wusste.

Bislang war er ganz auf den Unfalltod der geliebten Schwester Vilma und den seiner Eltern fixiert und hat aus diesen Erfahrungen "Das Leben eines Verlierers" geschrieben. Mit dem neu gewonnenen Bruder bricht nun seine literarisch vermessene Verlierer-Welt zusammen. Aber warum haben die Eltern nie von Robert erzählt? Weil sie ihn für ein Diamantcollier an ein befreundetes Ehepaar verkauft haben, als ihnen nach den Studentenunruhen 1968 der jugoslawische Geheimdienst auf den Fersen war.

Im "Brioni" ist ein Treffen zweier Männer gefährlich - spätestens wenn sie sich an der Hand halten. Denn das Lokal ist nur neu gestylt - die rabiaten homophoben Aversionen sind unverändert. Und als Robert von der Toilette in Frauenkleidern zurückkehrt - er nennt sich Alisa und steht vor einer Geschlechtsumwandlung -, ist die Männerbande nicht mehr zu halten: Robert wird brachial zusammengeschlagen. Filip hilft ihm nicht, sondern schaut zu; und die Kellner rufen nicht die Polizei, sie kümmern sich um die Rechnung. Lange lässt Filip Robert allein, um ihn dann in seine Wohnung zu bringen. Als er endlich mit ihm ins Krankenhaus fährt, kommt jede Hilfe zu spät.

Schon die Geschichte selbst hat es in sich: Wer es erlebt hat, als Erwachsener unverhofft einem Bruder gegenüberzustehen, weiß, wie subtil und "lebensecht" noch die kleinsten Details in diesem Roman sind - bis hin zur fast unüberwindlichen Hürde, "unsere Eltern" zu sagen. Und das "Brioni" steht für die Modernisierung bei unveränderten sozialen Stereotypen in postkommunistischen Gesellschaften.

Wie nebenbei wird dabei jenen Ewiggestrigen, die sich trotz der brillanten Essays von Drago Jancar ihre Träume von Tito-Jugoslawien erhalten wollen, weil der Kommunismus doch wenigstens irgendwo ein menschliches Antlitz gehabt haben muss, die politische Realität demonstriert: Bei der Beerdigung von Filips Schwester gab es mehr Polizisten in Zivil als Trauergäste - der Unfall (wie auch der der Eltern) war schließlich vom Geheimdienst "organisiert".

Seine Unausweichlichkeit und Stringenz bezieht der Roman jedoch aus der sprachlichen und erzähltechnischen Gestaltung. Die 170 Seiten bestehen aus zwei völlig absatzlosen Teilen - es gibt in diesen Satz-Spiralen kein Innehalten, kein Entkommen. Ein ungreifbarer Ich-Erzähler berichtet, was Filip ihm erzählt hat. Und immer wird dieses Referieren aus zweiter Hand präsent gehalten - "sagte Filip" heißt es schon im ersten Satz, und das kann zu "fügte Robert hinzu, sagte Filip" gesteigert werden.

Nicht nur deswegen glaubt man bisweilen, ein Wiedergänger Thomas Bernhards habe diesen Text in Gang gesetzt; auch Themen und Motive wie das Brüderpaar oder der Hass auf die Eltern scheinen direkt aus dem Bernhard'schen Textuniversum zu kommen. Dass das nicht epigo- nal wirkt, sondern gleich vom Beginn an eine unheimliche Suggestion bewirkt, zeigt sich schon bei der seitenlangen Schilderung der immer neuen Anläufe Filips, den Brief von Robert zu öffnen. Doch anders als bei Bernhard dringen surreale Wahnfantasien in die glasklaren Szenen ein: Filip wird zunächst von seinen Möbeln eingekreist, dann jedoch öffnen sie sich wie das Rote Meer vor den Israeliten.

Albaharis an der Oberfläche so einfach scheinende Figurenkon stellation steckt voller offener und verdeckter literarischer Anspielungen - von der aristotelischen Tragödientheorie über Wittgensteins "Tractatus" bis zu einem Vergleich zwischen Jorge Luis Borges und Ivo Andric. Und natürlich lässt sich diese verhängnisvolle Geschichte zweier Brüder nicht lesen ohne die Hintergrundfolie von Kain und Abel.

Der Roman verweigert dem Leser Identifikationsmöglichkeiten, legt aber geradezu spielerisch Schneisen möglicher Deutungen. Und er ist genau konstruiert, wie schon der parallele Abgang Filips am Ende der beiden Teile signalisiert. Die Übersetzer haben nur beim Tempus-System gepatzt (Vorzeitigkeit ist irritierend oft nicht markiert), die Sogwirkung der atemlosen Sätze ist ihnen zu verdanken. Wieder erweist sich: Sie wurden zu Recht dafür aus gezeichnet, dass wir diesen Weltstar der serbischen Literatur auf Deutsch lesen können. (Cornelius Hell, Album, DER STANDARD, 22./23.9.2012)