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"Der Robin-Hood-mäßige Impuls, ,die Industrie‘ zu schnalzen, fiele weg": Ein Demonstrant gegen das Acta-Abkommen versucht, die Welt von seinen friedlichen Absichten zu überzeugen.

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Die Debatte um das Urheberrecht ist im Zentrum der politischen Auseinandersetzung angekommen. Die grundlegende Frage, ob Künstler und Erfinder für ihre Hervorbringungen einen besonderen rechtlichen Schutz benötigen, der über das gewöhnliche Zivilrecht und die darin möglichen Regelungen hinausgeht, ist mehrere hundert Jahre alt und stellt sich heute kaum anders als zur Zeit der ersten Copyright-Statuten in England 1710. Allerdings ist aus einer betulichen Branche von Dichtern, Verlegern, Musikern, Buchhändlern, Varieté- und Theaterimpresarios ein global operierender Industriezweig geworden. In den Vereinigten Staaten beträgt der Anteil der Copyright-Indus trien am Bruttosozialprodukt schon geschätzte elf Prozent.

Entlang der Fragen des Immaterialgüterrechts formieren sich die Fronten in den globalen Verteilungskonflikten der Zukunft. In ihrer Streitschrift No Copyright, übersetzt von Ilja Braun und erschienen im Berliner Alexander-Verlag, beschreiben die nieder ländischen Kulturwissenschafter Joost Smiers und Marijke van Schijndel diesen Prozess als "Machtkampf der Kulturkonzerne um das Urheberrecht", so der Untertitel. Smiers lehrt als Pro fessor an der Kunsthochschule Utrecht über Kunst und Ökonomie. Im Internet und im globalen Handel versuchen die Verwerter "geistigen Eigentums" neue Claims abzustecken. Diese virtuelle Landnahme verhindere einen gerechteren Zugang zu Wissen und technischen Errungenschaften in der Welt, bewirke einen Verlust an kultureller Vielfalt zugunsten kulturindustrieller Massenware und gehe zuletzt para doxerweise zulasten der großen Zahl produzierender Künstler.

Zunehmend plausibel

Was Smiers und van Schijndel zur Lösung vorschlagen, erscheint zunächst verstörend radikal, gewinnt im Laufe der Lektüre von 168 Seiten jedoch zunehmend an Plausibilität. Sie erhärtet den Verdacht, dass Rechtsvorschriften, die einstmals zum Schutz der Erbringer kreativer Leistungen in Kunst und Technik geschaffen wurden, sich unter den heutigen technischen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen zunehmend gegen sie wenden. Die Autoren fordern darum nicht weniger als die ersatzlose Abschaffung des Urheberrechts und seiner verwandten Rechtsformen. Sie wollen die Kulturindustrie entflechten, aber etwa auch mächtige Pharmakonzerne zu Generika-Herstellern herabstufen und die Forschung in öffentliche Hände begeben, womit sie schon ein nächstes Buchprojekt ankündigen, das die Abschaffung aller Patente propagiert.

Schutz der Marke

Es geht also nicht nur um Kulturproduktion im weitesten Sinne, wie etwa um die Verwertungsinteressen einer weltweit agierenden Film- und Musikindustrie. Das Geschäftsmodell der pharmazeutischen, petrochemischen und agrartechnischen Industrie etwa baut auf die globale Durchsetzung des Patentrechts. Ohne den Schutz durch Markenzeichen lassen sich Konsumgüter, die über ihren realen Nutzen hinaus unser Begehren anstacheln, nicht wirksam lancieren. Die Interessenlage der Industrie hat eine lange Reihe internationaler Verträge, wie das zuletzt gescheiterte Acta-Abkommen, hervorgebracht, die das Urheberrechtsregime der entwickelten Länder im globalen Handel durchzusetzen versuchen.

Die gemeinfreie Infrastruktur des World Wide Web bietet der Kulturindustrie zuvor ungeahnte Werbe- und Verbreitungsmöglichkeit, andererseits droht sie aufgrund der technischen Gegebenheiten des Netzes und der Möglichkeit, digitale Inhalte auf einfache Weise und ohne Qualitätsverlust zu kopieren, die ausschließliche Kontrolle über ihre Inhalte zu verlieren. Vor diesem Hintergrund gedeihen die "urban legends" von den Netzpiraten und bösen File sharern, die die ohnehin schon armen Künstler um Lohn und Brot bringen.

Doch die Diskussion um eine Infiltration der Privatsphäre, über Netzsperren und drakonische Maßnahmen für Handlungen, für die eine überwiegende Mehrheit nur mäßiges Unrechtsempfinden aufbringt, hat das Bild in jüngster Zeit gewandelt. Die permanente Ausdehnung des Urheberrechtsuniversums scheint überdehnt. Es folgt nun eine vermehrte Debatte um Ausnahmetatbestände. Das Remixen von Musik soll möglich sein, minderjährige Fans mit wenig Taschengeld sollen der Kriminalisierung entgehen, private Nutzung und nichtkommerzielle Verbreitung in einem rechtssicheren Umfeld möglich sein. Afrika braucht billige HIV-Medikamente, asiatische Bauern leistbares Saatgut. Die Creative-Commons-Bewegung im Bereich freier Software will das Urheberrecht beibehalten, es aber mit den Mitteln des Vertragsrechts abmildern.

Ungleiche Verteilung

Diese Ansätze halten Smiers und van Schijndel teilweise für löblich - daran, dass das Urheberrecht aus ihrer Sicht nicht reformierbar ist, ändern sie nichts. Solange es besteht, bleibt die Vormachtstellung der Industrie gegenüber Konsumenten und individuellen Produzenten erhalten, ebenso wie die höchst ungleiche Verteilung von Urheberrechtserlösen. Ca. 90 Prozent der Urheberrechtseinnahmen fließen an ca. zehn Prozent der Urheber.

Letzteres spricht für sie auch gegen eine Kultur-Flatrate. Ihre Forderung einer totalen Abschaffung stützen sie im Wesentlichen über drei Argumentationslinien: Das Urheberrecht erleichtert und sichert die Bildung von Monopolen, seine gleichsam naturrecht liche Begründung im populären Diskurs ist juristisch wie historisch nicht stichhaltig, und es taugt weder dazu, Künstler zufriedenstellend zu entlohnen, noch als wirksamer Anreiz zu heraus ragenden Leistungen in Kunst, Wissenschaft und Technik.

Neue Chance

Die historisch nie dagewesene Chance, Blockbuster und Bestseller auf einem nunmehr weltumspannenden Markt für die Spanne eines Menschenlebens zu positionieren, lässt nahezu jede Investition in Produktion, Werbung, Merchandizing etc. einzelwirtschaftlich sinnvoll erscheinen.

Der immer größere Aufwand, Aufmerksamkeit zu gewinnen, überschüttet den Konsumenten mit überflüssiger Werbung, erschwert eine unabhängige Medienberichterstattung im kulturellen Feld und macht es alternativen Anbietern immer schwerer, eine passende Nische am Markt zu finden. Lokale Märkte verschwinden, große Märkte verlieren an Vielfalt. Ohne den Schutz des Urheberrechts wären weite Teile der Kulturindustrie ein Fall für das Kartellamt. Für Smiers und van Schijndel geht die Entflechtung der Konzerne und die Abschaffung ihres "Sonderrechts" Hand in Hand. Smiers und van Schijndel halten es mit der Kunst nicht anders als mit den übrigen Feldern von Wissens produktion: Jedes Werk greift auf andere zurück, verändert und erweitert den Blick. Da sei es schlicht und einfach undemo kratisch, auf ein Werk nicht reagieren zu dürfen, es nicht neu zu mixen oder sonst wie verändern zu dürfen.

Dezentrales Potenzial

Einen möglichen Schaden durch Trittbrettfahrer hält Smiers auch ohne Copyright für gering, da auch dem Trittbrettfahrer wiederum Trittbrettfahrer drohen. Auch gegen den Missbrauch eines Werks gebe es im Zivilrecht Ins trumente, die beim Wegfall des Urheberrechtes zum Tragen kommen würden.

Wie sollen Künstler ohne Urheberrecht Geld verdienen, wenn die meisten es damit schon nicht können? Smiers und van Schijn del erweisen sich in ihrer Argumentation als überraschend überzeugte Marktwirtschafter. Nach der Abschaffung des Urheberrechts und der Entflechtung der Konzerne würden sich Investitionen in Blockbuster und Bestseller nicht mehr lohnen.

Micropayment-Systeme

Viele Anbieter und wenige Wellseller würden auf einem "level playing field" ihrem Publikum gegenüberstehen. Es wären die dezentralen Potenziale des Internets endlich auszuspielen. Mittels leistungsfähiger Micropayment-Systeme könnten Künstler in eine direkte Geschäftbeziehung mit ihrem Publikum treten. Hier können Geschäfte entstehen, die auf Vertrauen basieren. Der Robin-Hood-mäßige Anreiz, "die Industrie" zu schnalzen, fiele weitgehend weg.

In ihren konkreten Visionen versuchen Smiers und van Schijndel eher Denkräume zu öffnen, als abschließende Vorschläge zu unterbreiten: Printing on Demand, das Verschenken von digitalen Inhalten zur Werbung für Konzerte, Bücher oder gedruckte Zeitungen und vieles mehr. Eine ganze Reihe von Modellen jedenfalls bieten sich der versammelten Intelligenz einer emanzipationsbereiten Gesellschaft zur Erprobung an. (Uwe Mattheiß, DER STANDARD, 22.9.2012)