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Die Länder haben die Wahl, sagt Kommissar Andor. Entweder sie heben das Pensionsantrittsalter drastisch an, oder sie riskieren die Zunahme der Altersarmut. Österreich fordert er auf, die Frühpensionierungen weiter einzuschränken und das Pensionsalter von Männern und Frauen rascher anzugleichen.

Foto: epa/OLIVIER HOSLET

EU-Sozialkommissar László Andor fordert eine drastische Erhöhung des Pensionsantrittsalters in Europa. Konkret wünscht er sich im STANDARD-Gespräch, das Pensionsalter künftig automatisch an die steigende Lebenserwartung anzupassen. Die EU-Kommission werde zwar keinem Staat vorschreiben, wann Menschen in Pension zu gehen haben. "Aber die Länder haben die Wahl: Entweder werden Pensionen künftig sehr niedrig ausfallen, und die Altersarmut steigt. Oder die Beitragszahlungen werden angehoben, was möglich ist, aber der Wettbewerbsfähigkeit schadet. Die dritte Option, die wir unterstützen, ist es, länger zu arbeiten", so Andor.

Die Ausgaben für Pensionen werden in den EU-Ländern bis 2060 von derzeit zehn auf 12,6 Prozent der Wirtschaftsleistung ansteigen; für Andor eine "dramatische" Entwicklung. Für einige Staaten würden die Pensionszuschüsse um 30 Prozent steigen. Die österreichische Regierung forderte er dazu auf, die Anpassung des Pensionsalters von Frauen an jene der Männer zu beschleunigen. Österreich will die Anpassung 2033 abschließen, das sei eine "sehr langfristige Zielsetzung". Die Regierung solle die Frühpensionierungen weiter einschränken.

Andor warnt vor einer steigenden sozialen Kluft in der Eurozone und kritisiert die bisherige Antikrisenstrategie seiner Behörde. Sparprogramme allein würden Südeuropa nicht aus der Misere helfen. Notwendig sei ein Investitionsprogramm in der Art des Marshallplans.

STANDARD: Sie kämpfen dafür, dass die Menschen in der EU länger arbeiten: Das Pensionsantrittsalter soll automatisch mit der Lebenserwartung steigen. Sie sind 46. Wie lange möchten Sie arbeiten?

Andor: Vor meiner Zeit in der EU-Kommission war ich in Ungarn als Universitätsprofessor tätig. Das Pensionsalter für Hochschullehrer liegt dort bei 70 Jahren, und das ist sehr in Ordnung für mich.

STANDARD: Die Lebenserwartung in der EU soll bis 2060 um acht Jahre steigen. Wird Ihr Vorschlag in Österreich umgesetzt, müsste das Regelpensionsalter auf 73 Jahre angehoben werden. Ist das vertretbar?

Andor: Ich möchte keinem Land vorschreiben, wann die Menschen in Pension zu gehen haben. Fakt ist aber, dass die Wahrscheinlichkeit der heute arbeitenden Generation und ihrer Kinder, das 100. Lebensjahr zu erreichen, stetig steigt. Immer mehr Menschen haben also 40 Jahre Pension vor sich. Zugleich sinkt die Zahl der Erwerbstätigen. Länder haben die Wahl: Entweder werden Pensionen künftig sehr niedrig ausfallen und wird die Altersarmut steigen. Oder die Beitragszahlungen werden angehoben, was möglich ist, aber der Wettbewerbsfähigkeit schadet. Die dritte Option, die wir unterstützen, ist es, länger zu arbeiten.

STANDARD: EU-Länder geben für Pensionen zehn Prozent ihrer Wirtschaftsleistung aus. Geschieht nichts, werden diese Ausgaben bis 2060 auf 12,5 Prozent steigen. Klingt nicht so dramatisch.

Andor: Oh doch, das ist dramatisch. Die zwei Prozent bedeuten für einige Länder einen Anstieg der Ausgaben von 30 Prozent. Die Kostenveränderung ereignen sich nicht über Nacht und werden erst mit der Zeit spürbar. Diese Verzögerung hat es Regierungen ermöglicht, Reformen aufzuschieben. Aber wenn die Umstellungen nicht erfolgt, wird der Anpassungsdruck überwältigend groß.

STANDARD: Wie sehen Sie das Pensionsystem in Österreich?

Andor: Die Herausforderungen sind ähnlich wie im Rest der EU: Die Lebenserwartung steigt, die Fruchtbarkeit sinkt, jedes Jahr verlassen mehr Menschen den Arbeitsmarkt, als neue hinzukommen. Österreich hat zuletzt einige wichtige Entscheidungen getroffen, so soll das Pensionsantrittsalter für Männer und Frauen angeglichen werden. Wobei die Zielsetzung eine sehr, sehr langfristige ist.

STANDARD: Die Angleichung soll bis 2033 erfolgen.

Andor: Weshalb die Kommission Österreich gebeten hat, die Anpassung zu beschleunigen. Österreich sollte zudem die Frühpensionierungen weiter einschränken. Die EU-Kommission ruft nicht dazu auf, sie abzuschaffen. Es gibt Fälle, wo Frühpensionen begründet sind, etwa in physisch anstrengend Berufen. Aber grundsätzlich profitieren immer mehr Menschen von verbesserten Arbeitsbedingungen und von Weiterbildungsmöglichkeiten. Das sollte es ermöglichen, länger im Berufsleben zu bleiben.

STANDARD: Die Regierung hat die Wege zur Frühpensionierung zuletzt eingeschränkt. Reicht das?

Andor: Es ist eine Sache, etwas anzukündigen. Worauf es nun ankommt, ist die Umsetzung.

STANDARD: Stört es Sie nicht, dass Pensionen fast nur mehr unter dem Gesichtspunkt der Kosten diskutiert werden? Besonders Menschen, die eine Invaliditätspension in Anspruch nehmen, werden gern als Simulanten stigmatisiert.

Andor: Wir wollen niemanden stigmatisieren. Wir erarbeiten unsere Vorschläge nicht nur auf Grundlage von Statistiken, sondern sprechen mit den Organisationen, die Menschen mit Erkrankungen und Behinderungen vertreten. Dabei kommt klar heraus, dass diese Gruppen selbst die Integration am Arbeitsmarkt anstreben. Sie wollen länger arbeiten. Es ist uns auch bewusst, dass diese soziale Inklusion mit öffentlichen Förderungen unterstützt werden muss, weshalb wir dafür eintreten, 20 Prozent der Mittel aus dem EU-Sozialfonds für soziale Inklusion am Arbeitsplatz zu verwenden.

STANDARD: Sie sind auch für Sozialpolitik zuständig. Ist das Bild, dass die Menschen von Europa haben, durch die harten Sparprogramme in Spanien, Griechenland, Portugal nicht stark beschädigt worden?

Andor: Das Gesamtbild gibt Anlass zur Sorge. Was die soziale Situation betrifft, geht es weniger um ein gesamteuropäisches Problem als um die zunehmende Kluft in der EU. Wachstum, Finanzstabilität, Arbeitsmärkte, Sozialsysteme: Europa driftet auseinander. Österreich und Deutschland spüren das nicht so stark, aber im Süden hat sich die Lage dramatisch verschlechtert. Das hat eine Reihe von Konsequenzen. So nimmt die Auswanderung aus Griechenland, Irland und Portugal in andere Kontinente zu. Das ist beunruhigend. Die Kommission bemüht sich daher, bestehende Strukturfonds so stark wie möglich zu nutzen und die Folgen der Transformation zu mildern.

STANDARD: Können Länder wie Griechenland ohne einen Marshallplan, also ein Wiederaufbauprogramm, aus der Krise kommen?

Andor: Eine Art Marshallplan wird nötig werden. Denn alleine durch Lohnanpassungen - das steht derzeit klar im Fokus der Sparprogramme in Südeuropa - wird die Wettbewerbsfähigkeit nicht wieder aufleben. Dafür braucht es viele andere Voraussetzungen, wie den weiteren Ausbau der Infrastruktur. Zudem müssen Investoren angezogen werden, was aber in einem Umfeld sozialer und politischer Instabilität nur schwer möglich ist.

STANDARD: Wenn Sie recht haben, wird die Zukunft düster. Geld für ein Wiederaufbauprogramm will niemand geben.

Andor: Die Zukunft muss nicht düster sein. Um die Erholung zu ermöglichen, braucht Europa aber einen anderen Mix an fiskaler und monetärer Politik. Europa muss innovativ bleiben. Die Europäische Zentralbank hat nun einige innovative Schritte angekündigt. Aber das wird nicht genügen. (András Szigetvari, DER STANDARD, 21.9.2012)