Das Hegel-Zitat "Die Wahrheit ist konkret" hat Intendantin Veronica Kaup-Hasler heuer dem vierwöchigen Steirischen Herbst als Motto vorangestellt.

Foto: J.J. Kucek

STANDARD: Ein Camp, in dem sieben Tage lang 24 Stunden künstlerische Strategien in der Politik und politische Strategien in der Kunst verhandelt werden: Ist der Steirische Herbst heuer eher Politikseminar oder Kunstveranstaltung?

Veronica Kaup-Hasler: Der Herbst reagiert seit jeher auf zeitgenössische Entwicklungen in der Kunst. Und die Umwälzungen, Revolutionen, Katastrophen, Fukushima, Arabischer Frühling, Occupy Wall Street, die Auf- und Umbrüche in Europa, die Proteste von Arbeitslosen in Athen oder Madrid: All das hat natürlich sofortige Spuren im Kunstgeschehen hinterlassen. Welche Rolle spielt Kunst konkret in gesellschaftsverändernden Prozessen? Soll sich Kunst gesellschaftlich konkret engagieren? Wo gibt es Ideologieverdacht? Wo wird Kunst vereinnahmt? Wenn der Steirische Herbst den Anspruch erhebt - und das tut er -, seismografisch die Kunstentwicklung zu verfolgen, dann muss er so ein Thema ernst- und wahrnehmen.

STANDARD: Das Hegelzitat "Die Wahrheit ist konkret" ist Herbst- Motto. Und, abgewandelt: "Art is concrete". Sie setzen also Wahrheit mit Kunst gleich. Ist Kunst folglich immer wahr?

Kaup-Hasler: Nein. Es ist als Selbstprovokation zu verstehen, aber auch selbstkritisch gegenüber der postmodernen Aussage, mit der wir groß geworden sind: dass die Wahrheit sich verästelt, vielschichtig, parallel existiert. Und dass Kunst schon allein dadurch, dass sie überhaupt ist, politisch ist. Viele verstehen sich als politisch, weil sie Kunst machen. Die Frage ist: Reicht das? Kann man komplexes Denken und komplexe Wahrheiten mit konkretem Tun in Verbindung setzen? Es ist eine Frage, die wir stellen, nicht eine Antwort, die wir geben. "Art is concrete": Das ist eine Behauptung, die sofort zu einem Dialog und zum Handeln auffordert. In den letzten Jahren ist eine Tendenz zu beobachten, dass sich viele Künstler mit ihren Tools und Talenten an konkreten Veränderungen von politischen oder gesellschaftlichen Verhältnissen beteiligen. Etwa eine Gruppe von Grafikern aus Buenos Aires, die in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung Landkarten der " unwritten histories" machen: Wo waren Auseinandersetzungen mit Drogenkartellen, Missbräuche, Aufstände, die nie offiziell in die Geschichtsschreibung Eingang finden? Da wird Kunst wirklich konkret und stellt sich einer Wahrheit. Aber ich bin keine Kunstphilosophin, ich will nicht behaupten, dass dies Aufgabe der Kunst sei. Es ist ein spannendes Phänomen, das wir aufzeigen wollen.

STANDARD: Sie haben hunderte Stipendiaten und Vortragende zu diesem Camp eingeladen. Ist das nicht ziemlich kostspielig?

Kaup-Hasler: Wir halten alles extrem kostengünstig. Den Stipendiaten zahlen wir die Flüge und die Unterkunft, bei der es sich um eine Installation von raumlaborberlin aus Bierkisten und alten Möbeln handelt. Und wir zahlen allen Vortragenden eine Einheitsgage, die eher eine Aufwandsentschädigung ist. Für das gesamte Festival - der Campwoche folgen ja drei weitere mit zahlreichen Highlights - stehen uns 3,6 Millionen Euro zur Verfügung, davon kommen rund 1,6 Millionen vom Land, 700.000 von der Stadt und 670.000 vom Bund. Außerdem konnten wir das bisher höchste Sponsoring generieren.

STANDARD: Befürchten Sie in Zeiten der Wirtschaftskrise, wo überall, auch im Sozialen, gespart wird, Kürzungen?

Kaup-Hasler: Das Kulturbudget macht ja nicht einmal ein Promille der Staatsausgaben aus. Ich bin eine Gegnerin davon, dass Kunst und Soziales gegeneinander ausgespielt werden. In unserem sehr dezidiert konkreten Programm geht es genau darum, welchen Beitrag die Kunst leisten kann. Wir haben im Zuge dieser Arbeit in jeder Abteilung geschaut, wo Ressourcen eingespart werden können. Das Geld ist für das, was wir machen, minimal. Wir zeigen lauter Ur- oder Erstaufführungen, vieles sind natürlich Koproduktionen. Doch die Ressourcen werden international immer enger, der Druck, nationale Künstler zu beschäftigen, wird bei meinen internationalen Kollegen immer größer. Aber wir haben international einen hohen Stellenwert und fast durchwegs eine Auslastung von über 95 Prozent. Das finde ich ehrlich gesagt großartig für ein Programm, das nicht gerade unterfordernd ist.

STANDARD: Wie eng ist das restliche künstlerische Programm mit dem Camp verknüpft?

Kaup-Hasler: Sehr. Das wurde am Ende wirklich sehr homogen. Es gibt allein im Bereich der bildenden Kunst zehn Ausstellungen zum Thema Politik und Kunst, Performances zu Körper und Politik. Nach Ende des Marathon-Camps, am 28. 9., wird es eine Gala zum Kampagnenstart von Rebranding European Muslims geben, einer internationalen PR- Aktion der israelischen Performancegruppe Public Movement. Sie hat drei international tätige Werbe- bzw. Branding-Strategen eingeladen, eine Kampagne für ein Rebranding des Images Europäischer Muslime zu entwickeln. Das Siegersujet wird im Rahmen der Gala gekürt und danach im medialen Raum, unter anderem auch im Standard, veröffentlicht und von Österreich aus in weitere Länder Europas ziehen.

STANDARD: Apropos Branding: Die Welt ist voller Festivals. Wie schwierig ist es, sich unverwechselbar zu positionieren?

Kaup-Hasler: Das ist tatsächlich schwer. Ich glaube, wir haben es geschafft, weil wir einen sozialen Raum schaffen, den es sonst nicht gibt. Seit ich Festivals mache, lade ich Künstler oder Architekten ein, Festivalzentren zu gestalten. Da geben wir durchaus Geld aus. Das kennen wir alle: Festivals, wo die Kuratoren mit den Künstlern essen gehen, die Konzerthauschefs mit ihren Leuten zusammensitzen ... Aber es gibt keine Begegnung mit dem Publikum jenseits des rein künstlerischen Moments. Ich versuche, wirklich als Gastgeberin zu fungieren. Das sehe ich als Teil meines Berufs an: Menschen zueinanderzuführen, Konstellationen zu ermöglichen.

STANDARD: Sie sind sechs Jahre im Amt und klingen immer noch euphorisch ...

Kaup-Hasler: ... weil ich mag, was ich mache. Diesmal war es zwar eine ungeheure Überforderung für mich und das gesamte Team, aber es macht Freude, an immer neuen Themen zu arbeiten. In manchen Dingen wird man auch besser und gelassener. Anfangs schwimmt man im kalten Wasser und wundert sich, ob man das Ufer je erreichen wird. Mit der Zeit fängt man immer mehr an zu tanzen mit der Sache. (Andrea Schurian, DER STANDARD, 21.9.2012)