"Das Deutschlernen widerspricht nicht dem Erlernen anderer Sprachen": Sprachwissenschaftler Rudolf de Cillia.

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Dass Türkisch an Österreichs Gymnasien nicht als Fremdsprache angeboten wird, hat rein politische Gründe, glaubt Rudolf de Cillia, Sprachwissenschaftler an der Universität Wien. Warum es für Kinder mit Migrationshintergrund wichtig ist, dass ihre Muttersprache in Kindergarten und Schule gefördert wird, und wieso das beim Deutschlernen hilft, erzählt er im Gespräch mit derStandard.at.

derStandard.at: Wie wird Zweisprachigkeit in Österreich derzeit gefördert?

De Cillia: In den öffentlichen Kindergärten, in denen viele Kinder mit Migrationssprachen sind, ist noch viel zu tun. Erst seit 2005 gibt es Maßnahmen zur Sprachförderung im Kindergarten. Heute ist das letzte Kindergartenjahr verpflichtend und gratis. Allerdings werden die Eltern durch eine Gesetzesänderung im Schulunterrichtsgesetz dazu verpflichtet, dass ihre Kinder die Unterrichtssprache bereits bei der Schuleinschreibung ausreichend beherrschen. Meiner Meinung nach ist das fatal.

derStandard.at: Weshalb?

De Cillia: Aufgrund dieses Gesetzes glauben viele Eltern, die nicht sehr gut Deutsch können, dass sie mit den Kindern zu Hause Deutsch reden müssen. Die Kinder bekommen so einen falschen und unvollständigen Input in der deutschen Sprache und können diese daher nicht korrekt erwerben.

derStandard.at: Für die meisten Kinder ist der Kindergarten die erste staatliche Einrichtung, mit der sie in Kontakt kommen. Was müsste man dort ändern?

De Cillia: Dort müsste man die Erstsprachen der Kinder systematisch berücksichtigen. Es braucht mehr Kindergartenpädagoginnen, die andere Erstsprachen als Deutsch haben und die für frühe Mehrsprachigkeit sensibilisiert sind. Die positiven Ansätze, die es gibt, müssen ausgebaut werden.

derStandard.at: Wie wirkt es sich beispielsweise auf ein türkischsprachiges Kind aus, wenn es in einen Kindergarten oder eine Schule kommt, wo Türkisch nicht gefördert wird?

De Cillia: Wenn das Kind in den Kindergarten kommt und ihm dort vermittelt wird, dass die Sprache, die es mitbringt, nichts wert oder sogar verboten ist, kann sich das negativ auf jeden weiteren Spracherwerb auswirken. Der Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Pädagogik ist ungeheuer wichtig. Schule und Kindergarten können eine einsprachige Haltung an den Tag legen und sagen: "Hier gilt nur Deutsch." Oder sie können Mehrsprachigkeit wertschätzen und die Kinder gleichzeitig zu einer möglichst guten Beherrschung der Bildungssprache Deutsch hinführen.

derStandard.at: Wie wird Zweisprachigkeit in den Schulen gefördert?

De Cillia: Die Kärntner Slowenen, Burgenland-Kroaten und -Ungarn haben eigene Schulgesetze, die ihnen zweisprachigen Unterricht in der Volksschule garantieren. Für die neuen Minderheiten gibt es auch muttersprachlichen Unterricht, der aber nur von etwa einem Fünftel der Kinder wahrgenommen wird. Denn er ist freiwillig und hat keine Relevanz für die Schulkarriere. Wenn man sich nach der vierten Klasse anschaut, ob das Kind für ein Gymnasium geeignet ist, spielt es momentan keine Rolle, ob das Kind mehrere Sprachen kann. Da zählt nur die Deutschnote. Das führt dazu, dass der Unterricht kein besonderes Prestige hat.

derStandard.at: Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, in der Schule seine Erstsprache zu lernen?

De Cillia: Jedes Kind sollte in der Sprache, mit der es in der Familie aufwächst und in der es die ersten Worte spricht, auch lesen, rechnen und schreiben können. Das ist eigentlich ein grundlegendes Menschenrecht, obwohl es nirgends fixiert ist. Diese Literalisierung in der Muttersprache befähigt Menschen, die zweisprachig ausgebildet sind, dann zum Beispiel zur qualifizierten zweisprachigen Kinderpädagogin. Wir brauchen auch zweisprachige Ärzte und Ärztinnen und zweisprachiges Pflegepersonal. In unserer Gesellschaft gibt es einen großen Bedarf an zweisprachig qualifizierten Menschen.

derStandard.at: In einer Volksschule in Niederösterreich hat eine Lehrerin türkische Wörter verwendet, um mit den Kindern den Buchstaben "Ü" zu üben. Haben Sie die Aufregung darüber darüber verstanden?

De Cillia: Das war völlig absurd. Es schadet den Kindern überhaupt nicht, Wissen über andere Sprachen zu erwerben. Das ist vielmehr eine Frage des politischen Diskurses, in dem seit fast 20 Jahren bestimmte Politiker versuchen, in Wahlkämpfen durch Ausgrenzung von Zuwanderern Stimmen zu bekommen. Diese Politik führt dazu, dass Türkisch in Österreich stigmatisiert ist.

derStandard.at: Was bringt Zweisprachigkeit den Kindern?

De Cillia: Eine gut entwickelte Erstsprache wirkt sich positiv auf den Erwerb der Zweitsprache aus. Sie beeinflusst auch das sprachliche Selbstbewusstsein: Vor einigen Jahren haben wir ein Projekt gemacht, bei dem wir türkischsprachigen Kindern durch Förderunterricht vermittelt haben, dass Türkisch eine wichtige Sprache ist, die in der Schule akzeptiert wird. Mit dem Ergebnis, dass die Kinder nicht nur plötzlich bessere Ergebnisse im Türkischen hatten, sondern auch in allen anderen Fächern. Eine positive, wertschätzende Behandlung der jeweiligen Muttersprache hat einen positiven Einfluss auf alle Schulleistungen.

derStandard.at: Verändert Zweisprachigkeit auch etwas an der Haltung der Kinder gegenüber anderen Sprachen?

De Cillia: Kinder, die früh erleben, dass verschiedene Sprachen wertgeschätzt werden, sind weniger anfällig für Ethnozentrismus, also weniger auf ihre eigene Gruppe bezogen. Sie lernen früher, dass es unterschiedliche Sprachen und Kulturen gibt, die gleichberechtigt sind. Auch die sprachliche Kreativität wird gefördert, Zweisprachige tun sich leichter beim Erwerb weiterer Sprachen.

derStandard.at: Welche Länder sind bei der Förderung der Zweisprachigkeit Vorbilder?

De Cillia: Im Migrationsbereich sind die skandinavischen Länder Vorreiter. In Schweden gibt es zum Beispiel ein Recht auf muttersprachlichen Unterricht. Auch manche deutschen Bundesländer sind Vorbilder: In Hamburg zum Beispiel gibt es viele zweisprachige Schulen, in denen Kinder in ihrer Muttersprache die gesamte Schullaufbahn durchlaufen können.

derStandard.at: Wo liegt Österreich im internationalen Vergleich?

De Cillia: Im Mittelfeld. Wir haben Maßnahmen wie Deutsch als Zweitsprache im Unterricht und zumindest das Angebot des muttersprachlichen Unterrichts, der von Lehrern durchgeführt wird, die der österreichische Staat anstellt. Das ist nicht selbstverständlich. In manchen Ländern müssen das die Herkunftsländer durchführen, was ich höchst problematisch finde. Die bei uns bestehenden Angebote müssten aber ausgeweitet werden. Man müsste es ermöglichen, dass Kinder in Gymnasien Türkisch als Fremdsprache lernen und in dem Fach maturieren können. Es gibt überhaupt keine vernünftigen Argumente, warum das bei uns nicht geht.

derStandard.at: Ist die Ablehnung der türkischen Sprache ein typisch österreichisches Problem?

De Cillia: Aus sprachlichen und ökonomischen Gründen gibt es keinen Grund, Türkisch als Fremdsprache abzulehnen. Die Türkei ist ein wichtiger Handelspartner für Österreich, und nicht nur die Wirtschaft braucht hoch qualifizierte Menschen, die Deutsch und Türkisch können.

derStandard.at: Warum wird Türkisch als Fremdsprache dann nicht in den Schulen angeboten?

De Cillia: Das hat meines Erachtens rein politische Gründe. Die stehen in Zusammenhang mit Slogans wie "Deutsch statt nix verstehen", "Daham statt Islam" und "Es reicht! Wer bei uns lebt, muss unsere Sprache können. Ohne Deutschkurs keine Zuwanderung". Der letzte Slogan stammt übrigens von der ÖVP.

Natürlich muss jemand, der hier lebt, im eigenen Interesse Deutsch können. Aber das Deutschlernen widerspricht überhaupt nicht dem Erlernen von anderen Sprachen. Ganz im Gegenteil: Wer mehrsprachig ist, tut sich auch leichter beim Deutschlernen. Sie finden kein Argument aus der Spracherwerbsforschung, das gegen Türkisch als Fremdsprache spricht. (Franziska Zoidl, derStandard.at, 21.9.2012)