Netzwerkanalyse von Stephan Schlögl zum Forum des Artikels US-Botschafter in Libyen getötet.

Grafik: Stephan Schlögl

Das Forum der Online-Tageszeitung derStandard.at ist zumindest an der Zahl der Kommentare gemessen eines der wichtigsten und aktivsten Politikforen in Österreich und damit eine zentrale Instanz des österreichischen Online-Diskurses. Es ist längst keine Ausnahme mehr, dass sich dieses Diskussionsforum innerhalb weniger Stunden mit Tausenden von Kommentaren füllt.

Nun gut, ich möchte nicht behaupten, dass alles, was die UserInnen hier von sich geben, auch lesenswert ist, aber aus einem mir bis dato unerklärlichen Grund kann ich nur selten widerstehen, zumindest die ersten Wortmeldungen unter jedem Artikel zu lesen. "Ich weiß, ich soll es nicht tun, weil ich mich grün und blau ärgern werde, aber ich tu es trotzdem ... immer": So oder so ähnlich hat es vor kurzem ein Bekannter formuliert und damit das Lesen der Kommentare auf der derStandard.at gemeint. Treffender lässt es sich kaum ausdrücken.

Aber grün und blau hin und her, zumindest darf man sich in diesem Forum sicher sein, dass man nicht in der von Eli Pariser formulierten Filterblase gefangen ist, in der man nur liest, was man ohnehin schon weiß oder meint.

Nun gibt es aber Fälle, in denen die eigenen Nerven nicht die einzige Hürde sind, die eineN davon abhält, das Forum von vorne bis hinten durchzulesen. Oft scheitert es schon an der reinen Anzahl der Postings. Da wäre zum Beispiel jener Artikel, in dem vergangene Woche berichtet wurde, dass der US-Botschafter in Libyen bei Protesten gegen ein Youtube-Video zu Tode gekommen ist. Innerhalb weniger Stunden hatte dieser Artikel über 1.000 Wortmeldungen geerntet.

Grund genug, sich diese Diskussion mit Methoden anzusehen, die solchen Massen an Kommentaren noch Herr werden: quantitativen. Nicht aber der Inhalt der Kommentare soll hier im Mittelpunkt stehen, sondern die KommentatorInnen selbst. Wie stehen sie zueinander in Verbindung und welche UserInnen führen die Diskussion an? Welche KommentatorInnen werden besonders oft kommentiert und wie hängt das mit ihren Bewertungen zusammen? Und nicht zuletzt: Warum geht es in diesem Forum eigentlich zu wie im Wilden Westen? Das sind die Fragen, die mich hier interessieren. Guido Palazzo ("Die Mitte der Demokratie", Baden-Baden 2002, S. 174) würde in diesem Zusammenhang vom "diskursiven Design" sprechen: "Nicht die Rationalität eines einzelnen Diskurses, sondern die Rationalität des diskursiven Designs wird zum Untersuchungsgegenstand."

Nun also ans Eingemachte. Der Artikel hatte, als ich die Daten erhob, 1.622 User-Kommentare von 566 Usern. (Anmerkung: Die Daten wurden vergangenen Samstag mit einem Python-Script erhoben.)

Kommentar wozu?

Das Forum ist dafür bekannt, dass hier gerne und vor allem heftig debattiert wird. Das schlägt sich natürlich auch in Zahlen nieder. Tatsächlich beziehen sich nur 26 Prozent der Kommentare direkt auf den Artikel, beim großen Rest von fast 74 prozent handelt es sich um Kommentare auf Kommentare. Wie weit sich Diskussionsstränge ziehen können, stellt die folgende Abbildung dar. Level meint, worauf ein Kommentar antwortet. Level 0 bedeutet, dass es sich um Kommentare auf den eigentlichen Artikel handelt, Level 1, dass es sich um einen Kommentar auf einen Kommentar auf den Artikel handelt usw.


Grafik: Stephan Schlögl

Wie sich hier unschwer erkennen lässt, beziehen sich weit mehr Kommentare auf die Wortmeldungen der UserInnen als auf den Artikel selbst. Wenn man nun bedenkt, dass sich die Diskussion bis Level 9 zieht und sich die Inhalte oft recht schnell vom eigentlichen Thema verabschieden, kann man abschätzen, wie viel die Kommentare hier noch mit dem ursprünglichen Thema zu tun haben. In unserem Fall – so viel darf ich verraten – geht es hier um freie Marktwirtschaft und Literaturwissenschaften.

Wer steht im Mittelpunkt?

Wie sehr das Forum von der Interaktion unter den UserInnen dominiert wird, lässt sich auch daran erkennen, dass es nur 79 Kommentatoren gibt, die weder einen anderen Userbeitrag kommentieren noch von einem anderen User kommentiert werden. Das bedeutet, dass über 85 Prozent der KommentatorInnen auf irgendeine Art und Weise, sei es nun aktiv, passiv oder beides, in die Debatte integriert sind.

Abbildung 2 stellt dies in Form einer Netzwerkvisualisierung dar. Jeder Punkt repräsentiert dabei eineN UserIn, wobei die Größe davon bestimmt wird, wie viele Kommentare er oder sie veröffentlicht hat. Die Farbe jedes Kreises zeigt, wie die Kommentare des Benutzers durchschnittlich bewertet werden (auf Basis aller Kommentare in diesem Artikel). Die Verbindungen zwischen den Knoten kommen zustande, indem einE BenutzerIn den Kommentar eineR anderen kommentiert. Umso dicker die Verbindungslinie, umso öfter passiert dies und bedeutet demnach, dass sich die beiden im regen Austausch befinden. Wie das Layout, also die Anordnung der einzelnen Knoten, zustande kommt, habe ich hier in einigen wenigen Worten erklärt.

Grafik: Stephan Schlögl

Es lässt sich zugegebenermaßen etwas schwer erkennen, dass sich der Kern dieses Netzwerks in zwei Teile teilt. Der rechte Teile ist stark von den Usern "GrafBobby" und "insertnamehere" dominiert, während in der linken Hälfte "pox vobiscum" und "Nur DIREKTE DEMOKRATIE ist Demokratie" besonders stark vertreten sind. Der Grund für diese leichte Spaltung ließ sich nur mit einem genaueren Blick auf die Daten herausfinden und liegt ganz einfach in einer zeitlichen Abgrenzung. Während sich die rechte Seite besonders kurz nach Veröffentlichung des Artikels an der Diskussion beteiligte, tat dies die linke Hälfte der UserInnen eher später.

Es verwundert außerdem wenig, dass die aktivsten UserInnen auch die zentralsten sind. Insgesamt sind die zehn aktivsten für fast 18 Prozent des Contents selbst verantwortlich. Mit selbst verantwortlich meine ich, dass sie diese 18 Prozent der Kommentare geschrieben haben. Die nächste Abbildung zeigt, wie sich die 1.622 Kommentare auf die 566 UserInnen verteilen.

Grafik: Stephan Schlögl

Wer dominiert?

Dominanz im Diskurs und dementsprechend Zentralität in diesem Netzwerk drückt sich jedoch, wie wir wissen, nicht nur dadurch aus, wie laut man schreit, sondern vor allem dadurch, ob die anderen Diskursteilnehmer darauf reagieren und auf die eigenen Beiträge einsteigen. Summiert man also zu jenen Beiträgen, die die zehn aktivsten UserInnen verfasst haben, noch jene, die auf diese antworten (indegree), kommen die zehn Aktivsten auf knapp 23 Prozent aller Beiträge. 23 Prozent ist viel, zugegeben, allerdings für den enormen zeitlichen Aufwand, den manche User hier betreiben ("GrafBobby" hat beispielsweise 61 (einundsechzig!) und damit 3,8 Prozent aller Kommentare verfasst) auch nicht außergewöhnlich viel.

Konzentriert man sich also auch darauf, welche BenutzerInnen mit ihren Kommentaren das meiste Aufsehen erregen, werden plötzlich User sichtbar, die nach Anzahl an Kommentaren kaum auffallen. Allen voran ein Benutzer, der mit einem einzigen Kommentar einigen Schwung in die Diskussion gebracht zu haben scheint.

Grafik: Stephan Schlögl

So klein, dass er kaum sichtbar ist, findet sich dieser Knoten jedoch im Herzen der Netzwerkvisualisierung und schafft es, beide Hälften zu verbinden. Er wird also von den frühen und späten Lesern kommentiert. Dies liegt wohl daran, dass im Forum jene Beiträge, die aktuell besprochen werden, auch wenn sie schon älter sind, noch auf Seite 1 erscheinen.

Besprochen wurde der Kommentar des Users sehr ausführlich. 27-mal direkt kommentiert, hat er insgesamt einen Strang von 43 Kommentaren provoziert. Ein einziger Kommentar reichte also aus, um eine Diskussion vom Zaun zu brechen, die immerhin fast drei Prozent aller Beiträge des Forums einnimmt. Dem aufmerksamen Beobachter sollte außerdem die tiefe Röte, die diesen Knoten ziert, nicht entgangen sein.

Skandal um Rosi? #

Der Kommentar ist nicht nur der meistbeantwortete, sondern gleichzeitig der schlechtestbewertete. Ganze 71 rote Stricherl musste der Autor einstecken (wen nun die Neugier überkommt, der Beitrag findet sich hier). In gewisser Weise gleicht dieser Fall ein wenig jenem Phänomen, dem man in der österreichischen Innenpolitik in periodischen Abständen begegnet: Wer vermeintlich skandalöses sagt, steht schnell im Mittelpunkt. Reicht es also aus, etwas "Schlimmes" zu sagen, damit sich alle mit einem/einer beschäftigen? Nicht unbedingt. Die folgende Abbildung zeigt, wie sich die Anzahl der Antworten zu den negativen Bewertungen der Kommentare verhält.

Grafik: Stephan Schlögl

Der angesprochene Kommentar scheint eine besondere Ausnahme zu sein. Politisch zu skandalieren muss also gekonnt sein! Nicht jedeR, der/die trollt, wird auch beachtet, und das ist gut so, auch wenn diese These erklärt hätte, warum das Forum oft so unerträglich ist. Abgesehen davon handelt es sich bei dem angesprochenen Kommentar meiner Ansicht nach keineswegs um einen, der in die Kategorie "Troll" passen würde.

Schlussfolgerungen

Wie lassen sich die vielen Zahlen nun interpretieren und wie sollte das perfekte Forum eigentlich aussehen? Ist beispielsweise die Beteiligung aller User in ungefähr gleichem Maße überhaupt ein ausschlaggebendes Kriterium? Oder sollte eher die Debatte, also der rege Austausch von Argumenten zwischen wenigen Gesprächspartnern, im Mittelpunkt stehen?

1) Der Dialog ist das zentralste Gut der Öffentlichkeit. "A public sphere that has democratic significance must be a forum, that is, a social space in which speakers may express their views to others, who in return respond to them and raise their own opinions an concerns" (Bohman, J., 2004: Expanding Dialogue. The Internet, the public sphere and prospects for transnational democracy. In: Crossley, N. & Roberts, J. M. [Ed.], S. 133f.). Diesem Kriterium kommt das Forum voll und ganz nach. Wie sich zeigen ließ, ist der überwiegende Teil der Postings in zumindest passiver Weise in die Debatte integriert. Nur relativ wenige Isolate umringen das Netzwerk. Während auf vielen anderen Plattformen des Web die meisten Stimmen in der Unendlichkeit des Cyberspace zu verhallen pflegen, wird hier der Großteil der Themen aufgegriffen und in irgendeiner Weise debattiert.

2) Auch das Recht, nicht zu partizipieren, ist ein hohes politisches Gut, wurde bei der Enquete-Kommission in der Sitzung zum Thema "Demokratie 2.0" vergangenen Freitag gesagt. Stimmt! Problematisch wird es jedoch dann, wenn Personen nicht deshalb fernbleiben, weil sie das Thema nicht interessiert, sondern weil bestimmte Umstände innerhalb des jeweiligen Diskussionsraumes dies verhindern. Die Trollerei und der oft beleidigende, beinahe immer süffisant-überhebliche Umgangston im Forum von derStandard.at stellen eine Zugangsbarriere dar, die wohl viele, die etwas – möglicherweise Kluges – zu sagen hätten, von der Diskussion fernhält. Resultat dessen ist dann, dass einige wenige die Debatte zumindest rein quantitativ dominieren können.

Woran liegt das? Auch wenn die letzte Abbildung zeigt, dass die roten Stricherl die Anzahl der Kommentare nicht perfekt erklären können, wird eines trotzdem deutlich: Die Stricherlpolitik funktioniert nicht. Es sei daran erinnert, dass ein rotes Stricherl eigentlich dann zu setzen ist, wenn ein Posting "nicht lesenswert" ist, und dass dies nicht gleichzusetzen ist mit "gefällt mir nicht". Ich nehme an, dass es auch die ursprüngliche Intention war, mit diesem System die Trollerei zu unterbinden. Dass die meisten User ihre Stricherl aber nicht unbedingt sinngemäß einsetzen, lässt sich daran erkennen, dass über nicht lesenswerte Kommentare so viel gesprochen wird. Anstatt die Diskussion also etwas zu entschärfen, scheinen diese Stricherl nur ein weiteres Prügelwerkzeug zu sein, wenn der verbale Knüppel einmal nicht mehr ausreicht.

Was bleibt, ist ein aktives Forum, in dem gerne über besonders aktuelle Themen debattiert wird. Tolle Sache eigentlich. Da wäre es doch auch sinnvoll, diese Plattform für einen respektvollen und produktiven Dialog zu nutzen. Man also kann nur hoffen, dass Michel Reimon recht behält, der bei der Präsentation der Studie zur österreichischen Twittersphäre gemeint hatte (wenn ich mich recht erinnere): Möglicherweise müssen die Leute erst noch lernen, sich im Internet nicht so zu verhalten, wie sie es auch in der Offline-Welt nie tun würden! (Stephan Schlögl, Leseranalyse, derStandard.at, 19.9.2012)