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Ein Beispiel für den wachsenden Druck auf unabhängige Medien: Dem Sender TVi wurde wegen kritischer Wahlkampfberichte praktisch die Lizenz entzogen.

Foto: Reuters/Garanich

Acht Jahre nach der Orangen Revolution gärt es in der Ukraine erneut. Die Parlamentswahl am 28. Oktober könnte eine Wende bringen, sagt Andrij Schewtschenko von der Vereinigten Opposition.

STANDARD: In fünf Wochen wird in der Ukraine ein neues Parlament gewählt. Werden die Wahlen eine neue Mehrheit bringen?

Schewtschenko: Die beiden wichtigsten Oppositionspolitiker, Julia Timoschenko und Juri Luzenko (Exinnenminister, der im August zu einer weiteren Haftstrafe verurteilt wurde, Red.), wurden vom Wahlkampf ausgeschlossen. Allein diese Tatsache reicht aus, dass diese Wahl die europäischen Standards nicht erfüllt.

Zusammen mit unabhängigen ukrainischen Wahlbeobachtern sind mittlerweile internationale Beobachter im Land, die den gesamten Wahlprozess anschauen. In etlichen Wahlkreisen kommt es zu Unregelmäßigkeiten. Das fängt bei unerlaubter Wahlwerbung wie dem Verteilen von Lebensmittelpaketen an Wähler an und endet mit Inhaftierungen unabhängiger oder Kandidaten der Opposition.

STANDARD: Hat die Opposition freien Zugang zu den Medien?

Schewtschenko: Unsere Kandidaten haben faktisch ein Auftrittsverbot im Fernsehen. Die meisten Sender verhalten sich aus Angst vor Repressionen regierungstreu oder werden vom Staat kontrolliert. Dem Sender TVi, einem kleinen unabhängigen Kanal, hat man praktisch die Sendelizenz entzogen, weil die Redakteure kritisch über die Vorgänge rund um die Wahlen berichtet haben. Ich hoffe, dass im Parlament eine Mehrheit für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Wiktor Janukowitsch zustande kommt.

STANDARD: Mit welchen Partnern wollen Sie das erreichen?

Schewtschenko: Ich gehe davon aus, dass die Vereinigte Opposition bis zu 30 Prozent bekommt. Zudem ist davon auszugehen, dass im nächsten Parlament neue Parteien einziehen. Vor allem Witali Klitschko (Boxweltmeister im Schwergewicht, WBO-Version, Red.) hat gute Chancen, Prognosen geben ihm zwölf Prozent. Teile seiner Partei zähle ich zu unseren Verbündeten. Ich rechne mit einer Situation, die dazu führt, dass Präsident Janukowitsch nicht bis 2015 im Amt bleibt, sondern dass es zu vorgezogenen Präsidentschaftswahlen kommt.

STANDARD: Seit dem Amtsantritt Janukowitschs 2010 haben sich die Beziehungen zur EU stark abgekühlt. Gibt es in der Ukraine noch eine Mehrheit für die europäische Integration?

Schewtschenko: Auf jeden Fall. Die Bürger wissen, dass eine enge Beziehung zur EU der einzige Weg zu Wohlstand und Sicherheit ist. Wir brauchen nur einen Blick zu unseren Nachbarn Polen oder den baltischen Staaten zu werfen. Die Regierung Janukowitsch hat das Land um Jahre zurückgeworfen. Das für uns so wichtige Assoziierungsabkommen liegt seit fast einem Jahr auf Eis.

Die EU hat die Notbremse gezogen, weil Janukowitsch Menschenrechte und Rechtsstandards permanent mit Füßen tritt. Oligarchen und andere Privilegierte hingegen sind längst in Europa: Dort gehen ihre Kinder zur Schule, ihre Frauen shoppen, und dorthin haben sie ihre Vermögen in Sicherheit gebracht, weil es bei uns für niemanden Rechtssicherheit gibt.

STANDARD: Die Prozesse und Verurteilungen Timoschenkos und Luzenkos haben in Europa für viel Kritik gesorgt. Wird Janukowitsch doch noch einlenken?

Schewtschenko: Das halte ich für ausgeschlossen. Er ist von der Sorte Politiker, die ihre Macht mit allen Mitteln verteidigen. Dieses Verhalten isoliert ihn mehr und mehr. Die Situation ist ähnlich wie 2004, als der Verdruss über den autoritären Präsidenten Leonid Kutschma ebenfalls zur Vereinigung der Opposition und zur friedlichen Orangen Revolution führte.

STANDARD: Die Ukrainer wirken alles andere als kampfeslustig. Sind sie zur nächsten Revolution bereit?

Schewtschenko: Das habe ich nicht gemeint. Allerdings sind die Unzufriedenheit und die Angst, wirtschaftlich und sozial abzurutschen, derzeit ein großes Thema. Die Leute wissen, wie schamlos sich große Teile der Regierungsvertreter bereichern. Die Reformen bei Renten, Steuern und im Sozialbereich haben keinerlei positive Auswirkungen. Im Gegenteil, die Korruption ist weiter angestiegen, der Staatshaushalt aufgebläht und die wirtschaftliche Lage dramatisch.

Eine erste drastische Abwertung der Landeswährung erfolgte bereits Anfang September, mit weiteren ist zu rechnen. Steigende Preise machen die ohnehin schon frustrierte Bevölkerung noch nervöser. Während sich Staatsbedienstete ungeniert ein Luxusleben leisten, wissen viele Gemeinden nicht, wie sie im Winter Schulen und Krankenhäuser beheizen sollen. (Nina Jeglinski, DER STANDARD, 19.9.2012)