Jahrzehntelang sollen in österreichischen Kinderheimen bei Mädchen mit Behinderungen und intellektuellen Beeinträchtigungen Zwangssterilisationen vorgenommen worden sein. Das wurde in einem Beitrag im Ö1-Mittagsjournal berichtet. Dabei seien die Sterilisationen meist durch eine Blinddarmoperation getarnt worden.

Dass sie danach keine Kinder mehr bekommen konnten, wussten die betroffenen Mädchen nicht. Laut Kinderpsychiater Ernst Berger hätten viele Träger von Behindertenwohneinrichtungen von den Eltern verlangt, dass Sterilisationseingriffe vor der Aufnahme in eine Wohneinrichtung für Behinderte durchgeführt werden.

Zwangssterilisationen bei einem IQ unter 85

Um Schwangerschaften zu vermeiden, soll der 1997 verstorbene, führende Wiener Psychiater im Behindertenbereich Andreas Rett, der auch ehemaliges NSDAP-Mitglied war, bei Frauen unter einem Intelligenzquotienten von 85 Sterilisationen generell befürwortet haben. Folglich wurden möglicherweise auch Mädchen sterilisiert, die heute nicht als behindert gelten würden.

Laut dem Behindertenrechtsexperten Volker Schönwiese sei durch die Sterilisationen ein Freibrief für sexuellen Missbrauch ausgestellt worden: Denn durch Sterilisationen seien zwar Schwangerschaften , aber nicht sexuelle Übergriffe verhindert worden.

Empfängnisverhütung ohne Aufklärung

Der Stellvertreter von Rett, Heinz Krisper, kann dieses Vorgehen nicht bestätigen. Ihm zufolge sei über eine Sterilisation immer im Einzelfall entschieden worden. Seit dem Jahr 2000 sind in Österreich Sterilisationen bei beeinträchtigten Frauen nur erlaubt, wenn ein Gutachten und ein Gerichtsbeschluss vorliegt.

Laut Expertinnen vom Wiener Verein Ninlin, einer Beratungsstelle für Frauen mit Behinderung, würden Frauen mit intellektuellen Beeinträchtigungen auch heute noch Mittel zur Empfängnisverhütung bekommen, ohne ausreichend darüber aufgeklärt zu werden. Kritisch sieht man bei Ninlin auch die Tatsache, dass diesen Frauen im Fall einer Schwangerschaft das Kind sofort vom Jugendamt abgenommen werde.

Behindertenrechtsexperte Schönwiese weist in diesen Fällen darauf hin, dass diese Frauen besser betreut werden, um ihr Kind behalten zu können. Außerdem fordern er und Kinderpsychiater Berger Anerkennung für die Betroffenen von Zwangssterilisation - auch in Form von Anerkennungszahlungen. (red, derStandard.at, 17.9.2012)