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"Ohne Brot gibt es keinen Frieden" skandierten die Massen auf der Plaza de Colón in Madrid, einem der Plätze, auf denen sich die aus dem Umland angereisten Demonstranten versammelt hatten.

Foto: AP

Madrid/Lissabon - "Wir sollen unsere Gürtel ständig enger schnallen, dabei sind wir längst beim letzten Loch", beschwert sich Antonio Martínez. Der 51-jährige arbeitslose Maurer aus dem südspanischen Almería zieht mit ein paar Dutzend Kollegen über die Plaza Mayor in der Madrider Innenstadt. Auf den roten T-Shirts der Demonstranten steht: " Auf! Sie wollen das Land ruinieren. Verhindern wir es!" Es ist das Motto des "Marsches auf Madrid", zu dem am Samstag alle Gewerkschaften Spaniens und 900 Berufsverbände, Organisationen und Initiativen gerufen haben.

Martínez protestiert nicht zum ersten Mal gegen den Sparkurs der Regierung unter Mariano Rajoy. "Es zahlen immer die Gleichen", beschwert er sich über die Kürzungen von 65 Milliarden Euro in den kommenden drei Jahren. Das ist der Preis für 100 Milliarden Euro aus Brüssel für die Rettung der Banken und Sparkassen. Jetzt steht ein neues Rettungspaket an. Die EZB soll spanische Staatsanleihen kaufen. Die Protestierenden befürchten neue Auflagen.

Auch die mit 420 Euro spärliche Stütze, die Martínez als Langzeitarbeitsloser im Monat noch bezieht, wäre fast der Sparwut zum Opfer gefallen. Nach Protesten überdachte die Regierung diese Maßnahme. Martínez ist sichtlich müde. "Wir sind um ein Uhr in der früh losgefahren" berichtet er. Aus Almería kamen 13 Busse, aus ganz Andalusien 500 mit 25.000 Menschen. Aus dem restlichen Spanien noch einmal 75.000 in weiteren 1500 Bussen. Zusammen mit jenen aus Madrid und Umgebung waren es mehrere hunderttausend Menschen, die ihrer Empörung gegen die Krisenpolitik Luft machten. Die Regierung sprach von gerade einmal 65.000. Die Menschen skandierten Parolen gegen die "Eurogewalt" und für "eine soziale Lösung" der Krise.

Weniger Konsum

Durch die Kürzungen geht der Konsum stetig zurück, Spaniens Wirtschaft rutscht weiter in die Rezession. Die Arbeitslosigkeit stieg auf mittlerweile über 25 Prozent. Inma Mas aus Benicasim am Mittelmeer ist Opfer dieser Entwicklung. Die 46-jährige Friseurin hat Kunden und Job verloren. "Ende des Monats läuft das Arbeitslosengeld aus", sagt sie. " Es ist nicht eine konkrete Maßnahme, die mich wütend macht. Es ist das Ganze. Alle Rechte und sozialen Errungenschaften fallen der Politik zum Opfer", sagt sie.

Um das Defizit bis Ende 2014 auf unter drei Prozent zu drücken, wurden die Löhne im öffentlichen Dienst gesenkt, das Weihnachtsgeld wurde gestrichen. In Krankenhäusern wird Personal abgebaut. Zu Schulbeginn arbeiten 40.000 Lehrer und Schulangestellte weniger als vor den Sommerferien. Hilfen für die Schulspeisung für Kinder armer Familien gibt es nicht mehr. Pflegezuschüsse für Behinderte wurden gekürzt, Mehrwertsteuer und Strompreise erhöht. Kündigungsschutz gibt es kaum noch. "Eine soziale Katastrophe", ist das für Fabian Veloz aus Valencia. Der 39-jährige Telefoninstallateur aus Ecuador hat noch Arbeit. "Aber die Telefongesellschaft hat uns ausgelagert. Früher verdienten wir bis zu 1800 Euro, heute liegt der Einstiegslohn bei 950."

"Hier sind jene zusammengekommen, die nicht aufgeben werden", schallt es derweil über Lautsprecher auf dem zentralen Platz Colón. Die Vorsitzenden der großen Gewerkschaften CCOO und UGT reden von " schwerwiegendem Wahlbetrug". Nichts von alledem sei im Wahlprogramm der konservativen Volkspartei (PP) gestanden. "Was wird mit dem neuen Rettungspaket auf uns zukommen?", fragen sie und fordern unter Applaus eine "Volksabstimmung über die Krisenpolitik". Im Notfall wollen die Demo-Organisatoren eine solche im Herbst selbst durchführen.

"Die Regierung hat den Schlüssel für einen neuen Generalstreik in der Hand", lautet die Drohung. Die Antwort kam prompt: "Die Spanier werden der Regierung für ihr Verantwortungsbewusstsein danken, auch diejenigen, die jetzt empört sind und protestieren", erklärt Rajoys PP. Antonia, Inma und Fabián hören das - die Gewerkschaften nennen es "arrogantes Verhalten" - im Bus zurück nach Hause.

Massendemos in Portugal

Noch aufgeheizter als in Spanien war die Stimmung in Portugal. Bei einer der größten Protestkundgebungen seit dem Ende der Diktatur 1974 haben Hunderttausende in 40 Städten teilgenommen, laut Medien eine Million. Die Demonstranten marschierten gegen die jüngsten Sparaktionen der Mitte-rechts-Regierung und forderten den Rücktritt von Premier Pedro Passos Coelho. In Aveiro nördlich von Lissabon setzte sich ein Demonstrant in Brand. In Lissabon bewarfen sie das Büro des Internationalen Währungsfonds mit Paradeisern und Böllern. Vor dem Parlamentsgebäude protestierten die Portugiesen bis zum Sonntagmorgen. (Reiner Wandler, DER STANDARD, 17.9.2012)