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Der Globalisierungskritiker Jean Ziegler schafft es mit seinem neuen Buch, dass der Hunger wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein rückt.

Foto: AP/Javier Galeano

Jean Ziegler ist direkt: In seinen Diskussionsbeiträgen genauso wie in seinen Büchern. Der Schweizer nutzt starke Worte und Bilder: Als "Skandal unseres Jahrhunderts" bezeichnet er den Hungertod von Millionen von Menschen pro Jahr und benutzt auch den Begriff Mord, wenn es um Kinder geht. Er schreibt von Massaker und vom "Sieg des Raubgesindels" - und meint damit die Banken. Seine Heimatstadt Genf ist für ihn die "Welthauptstadt der Tigerhaie" - damit zielt er auf die Lebensmittelspekulanten ab.

Als "Kreuzritter des Neoliberalismus" bezeichnet er Privatkonzerne wie Nahrungsmittel- oder Pharmaproduzenten, aber auch den Internationalen Währungsfonds, die Welthandelsorganisation WTO und die Weltbank. Aber selbst wenn er die Vereinten Nationen als "Licht in der Nacht" bezeichnet, so beschreibt der ehemalige Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung sehr anschaulich die Schwierigkeiten dieser Organisation, für die er in dieser Funktion zwischen 2000 und 2008 tätig war. "Die UNO erweist sich diesen Schrecken gegenüber als ohnmächtig", so sein Fazit.

Empört Euch!

Die häufig sehr drastische Wortwahl entspricht nicht nur Zieglers Naturell, sondern hat auch den Zweck aufzurütteln. Der Soziologe beklagt und kritisiert die "eiserne Gleichgültigkeit" und die "zerstreute Aufmerksamkeit" der westlichen Welt. Sein mitschwingender Aufruf: Empört Euch!

Der heutige Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates liefert zudem Zahlen und Fakten für die aktuelle Debatte über den Einsatz von Biotreibstoff. Er prangert an, dass dadurch Anbaufläche für Nahrungsmittel verlorengehe und der Einsatz von Wasser und Energie in keinem Verhältnis stehe. Er nennt sie "Geier des grünen Goldes", die Profit daraus ziehen wollen.

Ziegler beschränkt sich aber nicht nur auf die anderen Kontinente, sondern geht auch auf Probleme in Europa ein. 2011 zählten in Spanien 2,2 Millionen zu den "schwerst unterernährten Kindern".

Sein Buch setzt aber nicht nur auf "blame and shame", sondern vermittelt ein fundiertes Grundlagenwissen, wie Phänomene und Entwicklungen zusammenhängen. An manchen Stellen sind die Ausführungen schwer zu ertragen, wenn ausführlich die verschiedenen Stadien beschrieben werden, bis der Hungertod eintritt. Ziegler widmet ein Kapitel "Hitlers Hungerplan" und schafft so eine historische Einbettung.

Häufig sind die Zahlenkolonnen, die Ziegler anführt, erdrückend und tragen weniger zur Erhellung bei denn zu einem Gefühl des Zu-viel-des-Guten. Weniger ist manchmal mehr.

Die Stärke des Buches ist die Authentizität. Ziegler hat gesehen, wovon er berichtet. Er war in Guatemala oder Niger, in Bangladesch und in Indien. Er hat mit den Menschen gesprochen, die sterbenden Babys beobachtet, deren Mütter Nonnen abweisen müssen, weil sie ohnehin keine Überlebenschance mehr haben - und sie sich nur auf diejenigen konzentrieren können, die es schaffen könnten.

Hunger im öffentlichen Bewusstsein

Der Autor schafft es aber nicht immer, Atmosphäre zu vermitteln. Er ist dann stark, wenn er im Anklagestil die Missstände anprangert. Die Wut nimmt man ihm ab, wenngleich der bekannte Globalisierungskritiker manchmal fast naiv anmutet: So setzt er darauf, dass "wir im Westen durch Wahlen, freie Meinungsäußerung, die Mobilisierung der öffentlichen Meinung und - warum nicht? - Streik eine radikale Veränderung der Allianzen und politischen Strategien bewirken. In der Demokratie gibt es keine Ohnmacht".

Zieglers Verdienst ist es, mit diesem Buch beizutragen, dass der Hunger wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein rückt, gerade in westlichen Wohlstandsgesellschaften wie der deutschsprachigen Welt. Denn wenn alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren verhungert, dann ist das ein Skandal, zu dem wir beitragen. (Alexandra Förderl-Schmid, DER STANDARD, 15./16.9.2012)