Coverfoto: Edition Transfer im Springer-Verlag

"The Map is not the Territory": Dieser von dem polnischen Mathematiker und Linguisten Alfred Korzybski formulierte Satz lebt nicht nur im Titel des jüngsten Houellebecq-Romans fort, er ist auch für etliche psychotherapeutische Richtungen des 20. Jahrhunderts zu einem Schlüsselaxiom geworden. In seinem Entwurf einer "allgemeinen Semantik" (Science and Sanity) arbeitete Korzybski 1933 die These aus, dass die menschliche Erfahrung und deren symbolische Vergegenwärtigungen - etwa in der Sprache oder in inneren Vorstellungen - zwei streng voneinander zu scheidende Sphären seien.

Was für die seelischen Repräsentationen der äußeren Welt gilt, gilt gleichermaßen für deren kartographische Darstellungen. Ein naives, gleichsam naturhaftes Verhältnis der Darstellung zum Dargestellten gibt es auch hier nicht. Vielmehr gehen jeder bildlichen Repräsention Wahlvorgänge voran. Manchmal werden diese Vorgänge unbewusst gesetzt, manchmal bewusst, und nicht selten dienen sie explizit politischen Zwecken wie zu Sowjetzeiten, als Karten mit weißen Flecken oder falschen Ortsangaben angefertigt wurden, um die kapitalistischen Gegner in die Irre zu führen.

Christian Reder, Professor an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien, hat vor kurzem einen wunderschönen Sammelband vorgelegt, der sich mit Aspekten des "kartographischen Denkens" befasst und dieses aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln in feinen und feinsten Details analysiert. Der mit Textbeiträgen und Anschauungsmaterial gleich opulent ausgestattete Band ist in der Reihe "Transfer" erschienen, mit der Reder seit vielen Jahren gesellschaftlichen Zersplitterungen von Wissen und Kunst entgegenarbeitet und Brücken zwischen üblicherweise weit voneinander entfernten Sphären der kulturellen Produktion baut.

In einem solchen Umfeld ist etwa ein klassischer Wanderer zwischen den Welten wie Philippe Rekacewicz gut aufgehoben. Der frankoamerikanische Kartograph ist auch Journalist, Mitherausgeber der Monde diplomatique und Leiter der wegweisenden Atlanten und Themenkarten dieser Zeitung. Die Relevanz kartographischer Intentionen erkennt Rekacewicz beispielsweise an der sagenhaften Akribie, mit der US-Megakonzerne wie Walmart das Verhalten ihrer Konsumenten ausspähen und in Bildmodelle umsetzen, um danach ihre Planungen zu richten. Rekacewicz selbst arbeitet bevorzugt mit skizzenhaften kartographischen Handzeichnungen, die bei Themen wie Migration, Globalisierung, internationale Geld- und Warenströme Wesentliches erfassen, ohne den Anschein des Endgültigen zu erwecken. Als einen Akt der "Weltanschauung" im pathetisch aufladbaren deutschen Wortsinn sieht Rekacewicz seine Arbeit nicht, sein Anliegen sei vielmehr genuin kartesianisch: "Die Welt sehen, um sie besser zu verstehen."

Ins gleiche Horn wie Rekacewicz stößt der Kulturwissenschafter und Kurator Roland Schöny, wenn er meint, es sei eine zentrale Aufgabe der Gegenwartskunst, digital geglättete Bildformate vom Google-Earth-Typus zu unterlaufen und ökologische und wirtschaftliche Themen aufzugreifen. Peter Allmayer-Beck gibt einen Einblick in die Welt der Globen, die Kulturwissenschafter und Spieleforscher Ernst Strouhal und Manfred Zollinger in jene der spielbaren Landkarten. Peter Oswald, Intendant des Arcana-Festivals für Neue Musik, befasst sich mit SoundMaps (vor allem bei John Cage); der Designtheoretiker Joachim Krausse mit der Dymaxion-Weltkarte des US-Architekten Buckminster Fuller. Faszinierend ein Essay der Zürcher Germanistin Barbara Piatti, die zeigt, wie im Zusammenspiel von Literaturwissenschaftern, IT-Spezialisten, Graphikern und Geographen Landkarten der räumlichen Dimension von literarischen Werken entstehen.

Im umfassendsten, thematisch zentralen Beitrag verfolgt Herausgeber Reder elementare kartographische Verbindungen: Greenwich, Nullmeridian, Mitteleuropäische Zeit und die "Mittellinie", die die Landmassen des Planeten Erde als fiktive, jeweils im größten Abstand zu den Meeresküsten gezogene Symmetrieachse durchläuft. Ein immer wieder in diesem Buch anklingendes Motiv ist das des Überwachungsstaates, für den sich mit den neuen Ortungsmöglichkeiten Schrecken erregende Qualitäten der Kontrolle auftun. Vor dieser Vision des ubiquitär vermessenen und kartographisch festgehaltenenen Menschen warnt Reder eindringlich: "Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass sogar Spielern das Recht zusteht, beim geringsten Misstrauen neue Karten zu fordern." (Von Christoph Winder/DER STANDARD, 15./16. 9. 2012)