Hatte es sich bei dem titelgebenden Papiertiger seines letzten Romans noch um ein recht zahmes Kätzchen gehandelt, so fährt Radek Knapp in Reise nach Kalino nun tatsächlich die Krallen aus. Schließlich geht es dem 1964 in Warschau geborenen und 1976 nach Wien ausgewanderten Autor, wie er im Gespräch mit dem STANDARD klarstellt, um das ihm überaus dringliche Anprangern gravierender Missstände unserer Gesellschaft.
Dabei hat Knapp mit seinem neuen Roman durchaus länger auf sich warten lassen. Das Erscheinen des schmalen Bändchens Papiertiger, in dem er seine Erfahrungen mit dem Literaturbetrieb pikaresk verarbeitete, liegt bereits neun Jahre zurück.
Davor war seine Karriere freilich alles andere als entschleunigt verlaufen. Der Erzählband Franio machte den heute zwischen Ös terreich und Polen pendelnden Knapp quasi über Nacht bekannt, sein mittlerweile auch verfilmter Schelmenroman Herrn Kukas Empfehlungen avancierte zum Bestseller.
Waren in diesen Werken die Bezüge zum Leben des Autors überdeutlich, so fallen sie in Reise nach Kalino weniger ins Auge. Nicht zuletzt, da Knapp sich diesmal den Mitteln des Science-Fiction- und des Detektivromans bedient. Für ihn eine logische Entscheidung: "Es gibt in der Literatur ein ehernes Gesetz: Wichtigen Themen sollte man sich mit leichter Hand nähern. Sonst läuft man Gefahr, wie ein Oberlehrer zu klingen. Ich wusste allerdings nicht, dass es ganz schön schwer sein kann, einen Krimi zu schreiben. Meine Achtung für Krimiautoren stieg von Seite zu Seite."
Einige Konstanten sind aber auch trotz des Genrewechsels geblieben. Einmal mehr bedient sich Knapp eines mit seinem Namen hadernden Helden. Julius Werkazy ist ein erfolgloser Detektiv, wie er im Buche steht, und wird dennoch von höchster Stelle auserwählt, um den ersten Mordfall der geheimnisumwitterten Stadt Kalino zu lösen.
Ein Privatzug bringt ihn in die völlig isolierte Metropole, wo eine kleine Gruppe von Wissenschaftern neben beeindruckend leisen Schiebetüren einen neuen Menschenschlag geschaffen hat. Die Kalinianer zeigen keine Zeichen des Alterns und verfügen daher über kein Konzept vom Tod, wie F. Osmos, der große Bruder von Kalino, Werkazy bei dessen Briefing erklärt. Folglich ist nicht nur der Kreis der Verdächtigen recht überschaubar, sondern zudem allerhöchste Diskretion angesagt.
Schließlich sei nichts schlimmer, als die stets leicht sediert wirkenden Kalinianer zu beunruhigen. Das oberste Gebot der Stressvermeidung führt sogar so weit, dass die primäre Tagesbeschäftigung darin besteht, abendliche Flirtversuche zur Erfolgsoptimierung im Chat zu simulieren. Die zu vermeidenden Stressobergrenzen sind für Knapp übrigens "genauso eine Augenauswischerei wie unsere Luftverschmutzungsobergrenzen".
Je mehr Werkazy über die Bedeutung und die Hintergründe des Verbrechens herausfindet, desto klarer wird ihm, dass die oberflächliche Perfektion Kalinos nur um einen hohen Preis zu haben ist. Erkenntnisse, die für den sich beständig nach einem Tropfen Cognac Sehnenden überraschender kommen als für den Leser.
Dass man den recht vor hersehbaren Erkundungen Wer kazys trotzdem gerne folgt, liegt mehr am vergnüglichen Erzählduktus Knapps als an der Wendung der Ereignisse in der vermeintlich exo tischen Zukunftsvision. Diese ist schließlich nur ein leichtes Zerrbild unserer eigenen Welt, welches, mit nur wenigen Strichen gezeichnet, die reale Vorlage stets durchschimmern lässt.
Die Zugfahrt nach Kalino ist für Knapp nicht weniger als "eine Reise mitten in das kranke Herz unserer Gesellschaft". Mit dieser liegt für den Schriftsteller einiges im Argen: "Unsere Gesellschaft hat längst aufgehört, wesentliche Fragen zu stellen. Die Konzerne, das absolute Übel unserer Zeit, verwüsten unseren Planeten und erziehen uns zu Konsumenten, während die Unterhaltungsindustrie dafür sorgt, dass wir ja nicht auf dumme Gedanken kommen und die Hand, die uns manipuliert, beißen. Sogar die meisten Künstler wollen heute nur noch Stars werden und sind vor allem an den Verkaufszahlen ihrer Werke interessiert. Irgendwann sagte ich mir: Es reicht! Heiliger Zorn überkam mich."
Zum Misanthropen hat sich Knapp trotz dieses Furors nicht entwickelt: "Ich kritisiere, was ich mag und was mir wichtig ist. Ich habe daher jahrelang Polen kritisiert, jetzt möchte ich die westliche Wohlstandgesellschaft aufs Korn nehmen, die wohl oder übel seit 30 Jahren mein Zuhause ist."
Dermaßen involviert, gerät auch der Held des Romans zu einem Alter Ego des Autors. Ob Privat detektive und Schriftsteller verwandte Berufsgruppen sind? "Und was es für Ähnlichkeiten gibt! Ich sehe diesen Kalino-Detektiv täglich, wenn ich in den Spiegel blicke. Genau wie bei mir ist es sein Job, zu beobachten und daraus Schlüsse zu ziehen."
Auf einen Unterschied besteht Knapp jedoch: "Ich führe keine Gespräche mit der Minibar, jedenfalls noch nicht. Mein Alkoholkonsum hat den westeuropäischen Standard noch nicht überschritten. Aber ansonsten ziehen wir uns sogar gleich an. Ich habe ihm für diesen Fall meine graue Schnürlsamthose geliehen."
Die Ähnlichkeit Kalinos mit unserer Welt wird ebenso an Details deutlich. Ein Beispiel ist der Gerlan, eine Art Mobiltelefon, das seinem Benutzer auch einen Stimmungsaufheller injiziert. Das glückliche Erscheinungsbild der Kalinianer rührt nicht nur daher, dass diese keine Zeitung kennen und statt herkömmlicher Speisen eine konzentrierte Nährstoff- und Aromenpampe zu sich nehmen, sondern beruht primär auf einem Gerät, das sich kaum von normalen Handys unterscheidet.
"Sie sind eigentlich identisch", hält Knapp fest, "der Gerlan ist nur eine Nachfolgegeneration des Handys und wird ganz offen als ein suchtgenerierendes Gerät geoutet. Das gilt übrigens auch für unseren Computer oder das Internet, die ursprünglich als Instrumente gedacht waren, aber inzwischen zu einer Welt ausgeartet sind, aus der viele nicht mehr zurückfinden. Der Bildschirm allein schadet uns weitaus mehr, als wir denken. Es raubt das Kostbarste, was sich der Mensch im Laufe der letzten Jahrtausende angeeignet hat, die Konzentrationsfähigkeit."
Im speziellen Fall Kalinos ist es für Knapp nur logisch, dass ein Antiheld wie Werkazy zum Weltenretter wird. Während die ruhiggestellten Kalinianer durch ihr sinnbefreites Konsumenten leben die Forderungen der Natur nicht erkennen können, "muss jemand von außen her, um diesen Job für sie zu übernehmen".
In der Realität kann ein Einzelner freilich kaum derart gravierende gesellschaftliche Umwälzungen initiieren, wie es Werkazy letztlich versucht. Hoffnung sieht Knapp dennoch: "Wir ahnen nicht, welche Macht wir als Masse haben. Wenn wir nur ein Jahr lang nur das kaufen würden, was wir wirklich benötigen, also keinen zweiten Fernseher, kein drittes Handy oder nur zwei Mal in der Woche mit dem Auto fahren würden, dann würde das den Kon zernen einen empfindlichen Schlag versetzen. Es geht doch nur um eins: Schaffen es die Konzerne, uns einzulullen, oder schaffen wir es, wach zu bleiben. Dieser Kampf zwischen Herrschenden und Beherrschten ist so ewig wie die Menschheit. Wir sollten ihn wieder aufnehmen, sogar wenn wir dafür das Internet benutzen sollten."
Seinen Zorn begründet der Autor auch mit seiner Liebe zu Osteuropa, wo bisher "eine wohltuende Langsamkeit" geherrscht habe. Nicht umsonst hat die Stadt Kalino ihren Namen von diversen Städten des Ostens geliehen, wo der kapitalistische Geist heute besonders stark zu spüren sei. "Der Kapitalismus hat dort eine leicht manipulierbare Menschenmasse vorgefunden, die ihn mit offenen Armen empfangen hat. In Osteuropa ist im Moment jeder der Ansicht, dass ein Flachbildfernseher, ein Auto und vier Handys die Attribute eines glücklichen Lebens sind."
Die Folgen dieser Entwicklung sind für Knapp verheerend: "Die psychischen Erkrankungen, die Burnouts und weitere Symptome nehmen dort in einem viel schnelleren Tempo zu als im Westen, wo das Problem viel geschickter getarnt ist. Osteuropa ist meine Heimat und daher schmerzt mich das dort gerade stattfindende Gemetzel ganz besonders." (Dorian Waller, Album, DER STANDARD, 15./16.9.2012)