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Freunde am Fußballplatz, aber in der Politik? Die Stimmung zwischen Griechenland und Deutschland ist nicht immer ungetrübt, in der Krise kommt wieder die Frage nach ausstehenden Reparationszahlungen für den Zweiten Weltkrieg auf.

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Hagen Fleischer mit griechischen Studenten in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald.

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Griechenland spart eifrig, Deutschland klopft dem Land dabei gerne einmal auf die Finger, auf beiden Seiten wird mit deftigen Sprüchen nicht gespart. Da kommen in Griechenland nicht nur Erinnerungen an die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkrieges hoch, auch Reparationsforderungen an Deutschland werden wieder gestellt. Für Hagen Fleischer – wenn auch zu einem ungünstigen Zeitpunkt – eine berechtigte Forderung. Im Gespräch mit derStandard.at erklärt der Athener Historiker, wie die Griechen in der Vergangenheit mit ihren Reparationsforderungen schon am Türsteher scheiterten, warum sie dennoch auf Wiedergutmachung verzichten, die "deutschen Freunde" aber ihre Schulden begleichen sollten.

derStandard.at: Seit einigen Tagen prüft Athen offiziell Reparationsforderungen aus dem Zweiten Weltkrieg an Deutschland. Wie berechtigt sind diese Forderungen?

Hagen Fleischer: Im Prinzip sind sie absolut berechtigt. Griechenland war unter den durch Nazi-Deutschland besetzten nicht-slawischen Territorien – nach Polen, Jugoslawien und der Sowjetunion – das Land, das bei weitem die höchsten Blutopfer und materiellen Verluste verzeichnete. Das ist in Deutschland und Österreich kaum bekannt.

derStandard.at: Können Sie das genauer ausführen?

Fleischer: Abgesehen von den 60.000 ermordeten griechischen Juden, wurden zehntausende Griechen liquidiert; mindestens 100.000 verhungerten. Nach dem deutschen Abzug litt jeder dritte Grieche an epidemischen Infektionskrankheiten. Viele waren obdachlos, da etwa 100.000 Wohnungen oder Häuser total zerstört wurden. Die gesamte Wirtschaft und Infrastruktur des Landes wurde durch die Okkupation zerstört, so etwa die "kriegswichtigen" Bergwerke im Raubbau ausgebeutet. Griechenland hat sich nie ganz davon erholt. 1945 bezifferte die griechische Seite den Schaden auf über zehn Milliarden Vorkriegsdollar. Hiervon erhielt Griechenland an Reparationen einen Gegenwert von etwa 25 Millionen Dollar, zumeist über Demontage von Industrieanlagen (in Deutschland abgebaute Industrieanlagen als Wiedergutmachung wurden nach Griechenland geliefert, Anm.), etc. Infolge des Kalten Krieges wurde die Reparationsfrage auf Druck der USA praktisch abgewürgt, um Westdeutschland als Brückenkopf gegen Osten aufzubauen. Man könnte sagen, Griechenland hat in der Reparationsfrage den größten Nachholbedarf.

derStandard.at: Die Reparationsforderungen sind also kein neues Thema?

Fleischer: Der Zeitpunkt ist extrem ungünstig, denn in Deutschland heißt es: Jetzt ist das Land pleite, jetzt erinnern sie sich plötzlich daran. Das stimmt so aber nicht. Die Reparationsfrage wurde über Jahrzehnte hinweg immer wieder von griechischer Seite vorgebracht, trotz offizieller Blockierung des Themas. Vor der deutschen Einigung 1990 hieß es, Gesamtdeutschland hat den Zweiten Weltkrieg geführt, das halbe Deutschland kann nicht für alle Kriegsschäden aufkommen. Nach 1990 hieß es dann: Jetzt ist so viel Zeit vergangen, jetzt hat sich die Sache von selbst erledigt.

derStandard.at: Sie sprechen vom Londoner Schuldenabkommen von 1953, ...

Fleischer: Ja. Ich habe monatelang die relevanten Akten durchgearbeitet, die US-amerikanischen, die britischen, die deutschen und französischen. Da merkt man deutlich, wie die Amerikaner und die westdeutsche Seite gemeinsam nach einer Formel suchen, um die Auslandsschulden Deutschlands auf die Vor- und die Nachkriegsschulden zu begrenzen. In beiden Fällen profitieren die Amerikaner am meisten davon, in geringerem Ausmaß Großbritannien und – sogar die Schweiz.

derStandard.at: Das Schuldenabkommen vertagte die Kriegsentschädigungen auf unbestimmte Zeit.

Fleischer: Die genannten 25 Millionen Dollar wurden nicht von den Deutschen gezahlt, sondern von der Alliierten Reparationsagentur. Von 1945-49 gab es keinen deutschen Staat. In den frühen 1960er Jahren zahlte dann die BRD allen betroffenen Staaten individuelle "Wiedergutmachung" für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung aus Gründen der Religion, Rasse und Weltanschauung. In Griechenland waren das 115 Millionen D-Mark, in erster Linie für die Juden, aber auch für Zehntausende andere Opfer. Doch wurde klargestellt, dass damit nicht sonstige Ansprüche abgegolten werden. Das Schuldenabkommen von 1953 verwies aber implizit auf die deutsche Wiedervereinigung und ein Friedensabkommen, als Zeitpunkt für Reparationsforderungen.

derStandard.at: Wie viel wäre demnach also noch offen?

Fleischer: Die Summen, die in Griechenland genannt werden, sind riesig. Ich beteilige mich nicht an diesem Spiel. Aber Sie können von den geforderten Milliardenbeträgen die bezahlten 25 Millionen Dollar sowie 115 Millionen D-Mark abziehen.

derStandard.at: Da bleibt noch einiges übrig.

Fleischer: Ich halte es für utopisch, dass sich die deutsche Seite auf Reparationszahlungen für Griechenland einlässt, das wäre ein Präzedenzfall für andere Staaten. Griechenland sollte daher offiziell auf Reparationen von Staat zu Staat für die Kriegsverluste verzichten und sich auf den sogenannten Besatzungskredit (ein Zwangsdarlehen der Griechischen Staatsbank an das NS-Deutschland, Anm.) beschränken. Dieser wurde seinerzeit von den Nazi-Behörden, sogar von Hitler persönlich, schon als Kredit anerkannt, der zurückbezahlt werden sollte, wenn auch ohne Zinsen. Der Kredit beinhaltet zum Beispiel Ausgaben des griechischen Staates für Rommels Kriegsführung: Verpflegung und anderes wurde über Griechenland nach Nordafrika geliefert. Das Interessante ist, NS-Deutschland hat erste Teilbeträge zurückbezahlt, und die "Restschuld" auf einen Betrag von 476 Millionen Reichsmark berechnet, wörtlich: "Schulden des Reiches gegenüber Griechenland". Das wären mit heutiger Kaufkraft um die sechs, sieben Milliarden Euro, ohne Zinsen. Mit Verzinsung eine astronomische Summe. Die BRD argumentiert gerne, Reparationen zahlen nur die Verlierer eines Krieges, jetzt sind wir Partner, Freunde. Aber Schulden bezahlen auch Freunde.

derStandard.at: Gab es solche Zwangsdarlehen noch anderswo?

Fleischer: Nein. Das wäre ja auch der Vorteil für Deutschland, damit würde kein Präzedenzfall geschaffen. Dieser Kredit ist einmalig, den gab es nur in Griechenland.

derStandard.at: In der Krise kochen Ressentiments und Emotionen hoch. Vor allem über die Medien richten die Deutschen den Griechen aus, sie seien korrupt und faul. Die Griechen kontern, Deutschland spiele wieder Besatzer, sogar vom "Vierten Reich" war die Rede. Bedarf es da nicht einer Abrüstung der Worte?

Fleischer: Die Medien beider Seiten haben eine ganz große Verantwortung. Auf das Titelblatt des Focus zum Beispiel (eine Aphrodite-Statue mit Stinkefinger, Titel "Betrüger in der Euro-Familie", Anm.) folgten sofort griechische Retourkutschen. Schlagzeilen wurden ausgesucht, wie "Arbeit macht frei" oder Ähnliches, die eindeutig an Auschwitz und den Holocaust erinnern sollen. Wenn die Bild-Zeitung höhnt: "Ihr Pleite-Griechen, verkauft doch endlich eure Inseln", erinnert man sich in Griechenland daran, dass das Ober-Kommando der Nazi-Marine etwa Kreta als permanente Basis wollte. Dementsprechend findet man die Stereotype von den griechischen Faulenzern, Nichtsnutzen, Tagedieben und Betrügern bereits in den Befehlen jenes deutschen Generals, der 1943 das Massaker in Kalavryta, das größte im besetzten Griechenland, anordnete – an dem mehrheitlich Österreicher beteiligt waren. Wenn die Griechen auf solche Parallelen verweisen, zetert man in Deutschland: „"Das ist ja alles obsolet. Wir sind doch Partner." Aber solche Erinnerungen kommen wieder an die Oberfläche. Vor allem wenn man das gleiche Vokabular hört.

derStandard.at: Das spielt dann dem linken und rechten Rand der politischen Sphäre in die Hände. Auch in Fragen der Reparationsforderungen.

Fleischer: Leider sind diese Ränder sehr groß und wachsen weiter, auf Kosten der Mitte. Infolgedessen geht die Koalitionsregierung auf solche Forderungen ein, weil sie populär sind. Dann fallen Slogans wie "Nicht wir schulden, man schuldet uns" und man verweist auf den Nazi-Terror. In deutschen Akten aus den 1950er Jahren liest man, ein Hauptziel der eigenen Griechenlandpolitik sei die "Liquidierung der Kriegsvergangenheit". Man hat also bewusst versucht, unbequeme Altlasten totzuschweigen. Doch wie liquidiert man die Vergangenheit? Man hat den Griechen auch gesagt: Vergesst eure Wiedergutmachungs-Forderungen, ihr wollt doch in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft.

derStandard.at: Reparationsforderungen seitens Griechenlands werden jetzt ja nicht zum ersten Mal an Deutschland gestellt.

Fleischer: Wie gesagt, permanent in den ersten Nachkriegsjahren. Nach der Deblockierung des Londoner Schuldenabkommens infolge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, offiziell erstmals wieder 1995: Dem Auswärtigen Amt – damals noch in Bonn – sollte eine Verbalnote überreicht werden, die wurde aber schon vom Türsteher abgewiesen.

derStandard.at: Meinen Sie das wörtlich oder im übertragenen Sinn?

Fleischer: Wörtlich.

derStandard.at: Die kamen gar nicht rein?

Fleischer: Nein. Die Bundesregierung erklärte, das Thema sei "durch Zeitablauf erledigt". Gleiches galt auch für ca. 65.000 private Klagen von Besatzungsgeschädigten. "Schlecht begründet und rüde im Ton" wurden griechische Forderungen von der Bundesregierung abgewiesen, hieß es damals in der Süddeutschen Zeitung. Und zwar von allen Bundesregierungen: Kohl, Schröder, Merkel. Von griechischen Amtsträgern habe ich gehört, ihre Ausführungen bezüglich der griechischen Ansprüche seien "gegen eine Betonmauer" gestoßen. Auch das Thema des Besatzungsdarlehens.

derStandard.at: Was erwarten Sie sich von der Kommission, die nun die Forderungen aus dem Zweiten Weltkrieg in Griechenland prüft?

Fleischer: Das ist viel Lärm um nichts. Die angeblich neu aufgetauchten Akten habe ich schon vor zehn Jahren ausgegraben und in einem publizierten Forschungsprojekt ausgewertet. Regierung und Opposition sind nicht up to date. Die Kommission wurde gebildet, um dem Druck von links und rechts zu begegnen, als Indiz "nationaler Gesinnung" der Regierung, der von der Opposition Servilität gegenüber Berlin vorgeworfen wird. Doch die Aktion ist sinnlos, wenn die deutsche Seite nicht reagiert. Und das tut sie nicht. Es gab schon früher solche Experten-Kommissionen, selbst da reagierte Deutschland nicht, obwohl Griechenland damals noch als gleichwertiger Partner galt. Und jetzt ist es natürlich noch schwieriger.

derStandard.at: Sind die Reparationsforderungen eine Ablenkung der Wut der Griechen auf einen Feind von außen?

Fleischer: Mit dieser Sicht macht man es sich zu einfach. Alle griechischen Regierungen seit 1990 haben öffentlich erklärt, man verzichte nicht auf die Ansprüche, man werde sie zu einem günstigen Zeitpunkt vorbringen. Dieser günstige Zeitpunkt kam nur nie. Und jetzt ist natürlich der ungünstigste Zeitpunkt, diesen historisch und moralisch fundierten Anspruch anzumelden. (Daniela Rom, derStandard.at, 17.9.2012)