Dadji Toure reiste zwei Wochen durch Mali.

Foto: Toure
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Dadji Toure wollte sich selbst von der Lage in seinem Heimatland überzeugen und setzte sich ein ein Flugzeug in die Hauptstadt Bamako. Zwei Wochen lang reiste der Präsident der Vereinigung der Malier in Deutschland unter schwierigsten Sicherheitsbedingungen durch das ganze Land, wurde festgenommen und wieder freigelassen. Auf seiner Reise durch den besetzen Norden des Landes sprach er mit Funktionären der radikalen Islamistengruppe Ansar Dine, die weite Teile des Nordens unter ihrer Kontrolle hat, mit anderen radikalislamistischen Gruppen, Widerstandsgruppen aus der Bevölkerung, ehemaligen Kämpfern der Tuareggruppe MNLA und Söldnern aus der gesamten Region. Sein Fazit: Ohne internationale Hilfe ist Mali verloren. Seine Befürchtung: Ansar Dine könnte sich auch auf den Süden ausdehnen.

derStandard.at: Sie sind gerade aus Nordmali zurückgekommen. Wie ist die Situation vor Ort?

Toure: Es ist schlimmer, als ich vermutet hatte. Es herrscht Anarchie. Die Menschen haben Angst, alle tragen Waffen, sogar die Kinder. Es gibt keine Verwaltung, keine Schulen, kein geregeltes Leben mehr. Die Islamistenpolizei ist überall und sieht alles. Die Leute dürfen nicht mehr rauchen, Frauen dürfen nicht auf der Straße mit Männern sprechen und müssen Kopfbedeckungen tragen.

Ich habe mit dem "Polizeikommissar" der Islamistengruppe in Gao gesprochen. Er sagte wörtlich zu mir: "Wir sind hier, um die Scharia einzuführen. Zuerst hier, dann in ganz Mali, später in ganz Afrika und irgendwann auf der ganzen Welt." Die Behörden Malis könnten ruhig aus dem Süden wieder zurückkommen. Solange sie dafür sorgten, dass die Scharia eingehalten wird, hätte er nichts dagegen.

Ich habe ihm gesagt, dass ich auch Muslim bin und meine Religion in Europa gleichberechtigt ausüben kann, genauso wie andere ihre Religion frei ausüben könnten. Wenn diese allerdings sehen würden, wie der Islam mit Waffengewalt verbreitet wird, würde das dem Islam sehr schaden. Er erzählte mir, dass es auch in ihrer Gruppierung Leute gebe, die keine Muslime sind, und er überlege, für sie Kirchen zu bauen.

derStandard.at: Das hat er gesagt?

Toure: Ja. Weil er mir auf das andere Thema nicht antworten wollte.

derStandard.at: Sie sind mit dieser Reise ein großes Risiko eingegangen.

Toure: Ja, diese Reise war für mich sehr gefährlich. Aber ich wollte mich mit eigenen Augen von der Lage in meinem Heimatland überzeugen, nicht von Medienberichten abhängig sein. Überall gab es Checkpoints. Wir waren zu dritt unterwegs und mit Foto- und Filmkameras ausgestattet, um Berichte zu machen. 15 Kilometer von Gao entfernt wurden wir festgenommen. In Gao sitzt die "Einheitsbewegung für den Dschihad im Westen Afrikas". Ich wurde dreimal verhört. Was machst du hier? Warum bist du in Europa? Letztendlich konnte ich sie überzeugen, dass ich Malier bin und harmlos, und ich wurde freigelassen. Ich hatte großes Glück.

derStandard.at: Welche Rolle spielen die Tuareg-Rebellen noch, die die Abspaltung des Nordens gemeinsam mit den radikalislamistischen Gruppen erst bewirkt hatten. Danach haben sich die Islamisten gegen Sie gewandt und sie vertrieben.

Toure: Zuallererst muss man einmal festhalten, dass es den Aufstand "der Tuareg" als Gegenstück zu den Islamisten ja nicht gab. In der MNLA (Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad, Anm.) sind natürlich viele malische Tuareg, aber auch Leute aus Niger, Mauretanien, Nigeria etc. Der Chef der radikalislamistischen Ansar Dine, Iyad Ag Ghali, wiederum ist zum Beispiel selbst ein malischer Tuareg.

Auf meiner Reise habe ich einige Leute getroffen, die früher bei der MNLA gekämpft haben. In den Städten Diré und Goundam nahe Timbuktu sind zum Beispiel viele, die vorher für die MNLA gekämpft haben, zu Ansar Dine übergelaufen. Von dem erklärten Ziel, einen eigenen Staat namens Azawad zu gründen, war keine Spur mehr. Aber ich habe viele Spuren der Verwüstung der MNLA gesehen. Sie waren nicht zimperlich, haben getötet, vergewaltigt und zerstört.

derStandard.at: Wie schafft es Ansar Dine, diese Leute zum Überlaufen zu bringen?

Toure: Jeden Tag kommen neue "Rekruten". Es wird ihnen auch Geld versprochen, aber die meisten kommen, weil sie überzeugt sind von der Sache. Sie machen das für Gott. Außerdem werden viele Kinder und Jugendliche rekrutiert, die auf der Straße leben. Ihnen werden Plätze in Koranschulen angeboten und damit Abhängigkeiten geschaffen.

derStandard.at: Wehrt sich die "normale Bevölkerung", die nicht gewillt ist, die Region zu verlassen?

Toure: Es gibt Gruppen, örtliche Milizen, die Widerstand organisieren, militärischen wie zivilen. Sie warten dringend auf Hilfe aus Bamako. In der Zwischenzeit organisieren sie auch Schulunterricht für Kinder, bieten medizinische Hilfe an, kümmern sich um die Müllproblematik in den Städten. Sie versuchen, die Lage zumindest etwas zu verbessern, müssen sich aber nachts in Hinterhöfen treffen. 

derStandard.at: Warten sie umsonst auf Hilfe aus Bamako?

Toure: Ohne internationale Hilfe kann Mali nicht frei werden. Die radikalen Islamisten beginnen sich auch in ganz Mali auszubreiten. Bleibt die Situation, wie sie ist, wird das ein massives Problem für die gesamte Region. Ich habe unter den radikalen Islamisten in Timbuktu Leute aus dem Senegal getroffen, aus Burkina Faso, Niger, Mauretanien, Jemen und Pakistan. Die werden eines Tages zurückgehen und ihre Ideologien mitnehmen. Das malische Problem muss ein internationales Anliegen sein.

derStandard.at: Tut die internationale Gemeinschaft zu wenig?

Toure: Was ich nicht verstehen kann, ist zum Beispiel, dass die Verbrecher von MNLA mittlerweile zahlreich in Europa Aufnahme gefunden haben und dort frei herumlaufen. Diese Menschen haben getötet, vergewaltigt und zerstört. Vor drei Wochen haben MNLA-Mitglieder eine große Versammlung in Burkina Faso abgehalten. Angeblich wurde die Versammlung von der Schweiz finanziert, die sogar eine Delegation hinschickte. Manchmal können wir die Rolle, die die internationale Gemeinschaft in Afrika spielt, einfach nicht verstehen. (Manuela Honsig-Erlenburg, derStandard.at, 13.9.2012)