Foto: Verlag Lessingstrasse 6

Er hat 528 Seiten, viele Fakten, noch mehr Fiktion: So schwer kommt "Claustria" daher, Régis Jauffret gewaltiges, gewaltsames Werk. Sein vorletztes Buch galt der Ermordung des Genfer Bankiers und Sadomaso-Praktikers Edouard Stern (auf Deutsch: "Streng"). Nun reiste Jauffret nach Amstetten, wo alles hübscher und viel schlimmer aussieht.

Der Franzose steigt in den Keller in Amstetten, in dem Josef F. seine Tochter 24 Jahre lang einsperrte und ihr sieben Kinder in den Bauch pflanzte. 2008 verhaftet, wurde er in einem Prozess zu lebenslanger psychiatrischer Verwahrung verurteilt.

So weit die Fakten, die Jauffret präzis wiedergibt. Sein im letzten Winter im Pariser Großverlag Seuil erschienener Roman war in Frankreich ein Ereignis und ein Erfolg. Er beginnt im Jahre 2055, als Josef F. längst tot ist. Die meisten seiner Sprösslinge auch: "Die frische Luft hatte sie wie eine tödliche Ausdünstung langsam umgebracht." Amstetten sei nun eine "begrünte Stadt", und beim Betreten der örtlichen Moschee streife man seine Schuhe ab, schreibt Jauffret, der den Ort des Grauens besucht hat und darüber berichtet, auch über den Prozess.

Eine Bekannte Jauffrets sagt in dem Buch: "Ich kann mir vorstellen, wie ich ermordet, verstümmelt, gefoltert werde. Aber es gelingt mir nicht, mir vorzustellen, 24 Stunden lang in einem Loch zu verbringen." Dann zu den Lesern: "Versuchen Sie's, Sie schaffen es auch nicht. Vielleicht eine Woche, vielleicht vier Wochen. In der folgenden Nacht haben Sie Angst, einzuschlafen."

Jauffret versucht es trotzdem. Er beschreibt alles, lässt nichts weg. Dem Franzosen wurde schon vorgeworfen, er betreibe Voyeurismus und Österreich-Bashing. Dabei ist ein realer Roman wohl die einzige Art, sich einem so realen Fall zu nähern: Beim Lesen herrscht Schweigen, wie auf dem Friedhof, wie im Keller. Und man merkt, dass man sich eben doch nicht vorstellen kann, wie es gewesen sein muss. (Stefan Brändle, DER STANDARD, 13.9.2012)