Albert Serra am Set von "Honor de Cavalleria", u.a. 2006 auf der Viennale mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet.

Foto: Andergraun Film

Ein über die Maßen bescheidener Mann war der katalanische Filmemacher (und promovierte Literaturwissenschaftler) Albert Serra noch nie. Er zögert nicht, einen eigenen Film – in dem Fall seinen Zweitling "El Cant del Ocells" – als Meisterwerk zu bezeichnen.

Für sein Spielfilmdebüt "Honor de Cavalleria", eine extrem reduzierte Fassung der Don-Quijote-Geschichte, hat er einen Mäzen gefunden und die ästhetischen Freiheiten, die ihm diese ungewöhnliche Finanzierung bot, dafür genutzt, in seinem Film eigentlich nichts geschehen zu lassen. Die Figuren – allesamt Laien – sitzen und stehen in freier Natur, sie schweigen und tun nichts und sagen hier und da mal ein Wort. Die Kamera beobachtet in äußerster Ruhe, künstliches Licht gibt es nicht: Wenn es dunkel ist, ist es dunkel und wenn Licht ist, ist Licht. Hier ein bezeichnender Ausschnitt:

Neben den Spielfilmen hat Serra eine Art Fernsehserie gedreht, aber nicht fürs Fernsehen, sondern für das Museum für Moderne Kunst in Barcelona (MACBA), von der sich, wer mag, auf der Vimeo-Seite des Museums mehr als nur einen Eindrick verschaffen kann: Sämtliche Episoden gibt es da zu sehen, allerdings im katalanischen Original ohne Untertitel jedweder Art. Hier ist der sehr kurze Teaser-Trailer:

Auch das aber war vergleichsweise nur eine Fingerübung für das mutmaßlich exorbitanteste Filmprojekt aller Zeiten. Entstanden ist es ebenfalls nicht im Kontext des Kinos, dessen zeitlicher Rahmen sich immer nur unter beträchtlichen Mühen und mit großen Schwierigkeiten sprengen lässt: Wer hat schon die Geduld, zehn- oder zwölfstündige Filme wie etwa die des großen philippinischen Regisseurs Lav Diaz zu zeigen oder zu sehen? Auf der documenta als der wichtigsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst, geht freilich viel, wenn nicht alles. In jedem Fall ein filmischer Rekordversuch, an dem auch das Guinness-Buch der Rekorde sein Interesse anmelden dürfte.

Während der gesamten Documenta hat Albert Serra unter dem Gesamtprojektnamen "Three Little Pigs" jeden Tag, den Gott in Kassel werden ließ, einen gut einstündigen Film gedreht: Summa summarum sind das dann irgend etwas zwischen ein- und zweihundert Stunden. Der Titel bezieht sich auf drei historische Figuren recht unterschiedlicher Couleur, nämlich Goethe, Hitler und Fassbinder. Die Texte (manchmal auch Dialoge, wenn man so will) entstammen alle überlieferten Schriften: Goethes Gesprächen mit Eckermann, den Aufzeichnungen von Hitlers "Tischgesprächen" und Interviews mit und Artikeln von Fassbinder.

Vorgetragen werden sie – soweit ich das nach Ansicht eines winzigen Bruchstücks von gut einer Stunde sagen kann, in dem Fassbinder leider nicht vorkam – in typisch Serra'scher Machart: Sitzend, stehend, liegend sprechen – in präzis kadrierten und jeweils minutenlangen Einstellungen – die Darsteller der drei Protagonisten im natürlichen Licht (beziehungsweise in natürlicher Dunkelheit mit mehr oder wenig heller im Bild erkennbarer Lichtquelle) und deklamieren den Text in durchaus sorgfältiger Aussprache. Gehandelt im engeren Sinne wird nicht, gesprochen jedoch ohne Ende. Die Ruhe der Inszenierung, die Texte als Faszinosum, die Darsteller (in meiner Sequenz jedenfalls) grandios: Im Ergebnis eines der spannendsten Projekte der documenta. Leider gibt es bislang fast kein Bild- oder gar Videomaterial.

Gezeigt wurde der Film in Kassel bislang in täglichen Häppchen, in zweimal am Tag angesetzten Vorführungen des am Vortag fertiggestellten Materials in einem Kino am Kasseler Hauptbahnhof. Das große Bilderfressen beginnt allerdings erst am 11. September. Von acht Uhr abends bis zum Ende der documenta am kommenden Sonntag wird der komplette Film – falls man das noch "Film" nennen kann – ohne Unterbrechung gezeigt. Gut möglich, dass niemals jemand außer Serra selbst und ein paar wenigen an der Entstehung Beteiligten je das ganze Werk gesehen haben wird – eine Extremrezeptionssituation, die andere Kunstfilmdauerwürste wie Christian Marclays "The Clock" oder Douglas Gordons Hitchcockspreizung "24 Hour Psycho" souverän in den Schatten stellt.

Über den Sinn des Ganzen darf man also sicher diskutieren. Für Diskussionen, Wertungen, Interpretationen und Beschimpfungen müsste man aber doch größere Ausschnitte kennen, von denen gewiss immer noch schwer zu sagen sein dürfte, wie "repräsentativ" sie eigentlich sind. Korrespondentenberichte nehmen wir in den Kommentaren natürlich gerne entgegen.