Selbst-ver-ständlich ist es nicht normal, zu zweit für 425 Euro essen zu gehen. Mehr als ein halbes Monatsgehalt zum Beispiel von Medienmenschen, die dafür höchst qualitätvolle Arbeit leisten, und das mit einem Zeitaufwand, der anderen auch für zwei Monate reicht. Verputzt in zweimal sechs bis sieben Gängen mit gut ebenso vielen begleitenden Weinen, einem halben Dutzend gemüsigen Grüßen davor und Petits Fours danach, in dreieinhalb Stunden, zugegebenermaßen spannenden wie schönen ...

Rücksicht war ja noch nie Fidlers Stärke, und das schlechte Gewissen reicht oft nicht bis in die Mundregion. Die dann doch Hummer bestellt oder Meeresfisch, in Wien zudem, die dann doch von der, zweifelsfrei gestopften, Gänseleber kostet, und die gemeinsam mit der Resterscheinung für ein Wochenende ausgefeilten Essens nach Katalonien fliegt oder für ein paar Tage in eine Handvoll Luxushotels auf Bali, ja, hoffentlich muss man beim Jüngsten Gericht keine Ökobilanz vorlegen. Aber gerade bei der fällt das Steirereck nicht so ins Gewicht wie vielleicht in der Sozialverträglichkeitsbilanz. Trotzdem, endlich wieder einmal Reitbauers, ...

Foto: Katharina Schell

... wo schon Butter und Bärlauch zur bekannt unendlichen Brotauswahl sehr, sehr chic daherkommen. Ich Dilettant hab natürlich gleich versucht, mit das Porzellantazerl aufs Brot zu streichen, das die Butter trägt, aber Frau Schell machte mich gerade noch rechtzeitig vor dem ersten Kollateralschaden auf meinen Sehfehler aufmerksam.

Foto: Katharina Schell

Wenn das Steirereck schon auf Platz elf der besten Restaurants der Welt aufgerückt ist, das dieser italienische Mineralwasserriese erstellt, der nach einem ziemlich heruntergekommenen Kurort heißt. Weil wenn wir heuer schon zur Nummer zwei und zur Nummer 65 geflogen sind. Weil wenn Frau Schell hier bei Schmeck's auch schon authentisch über die Nummer eins der Welt referierte. Und wenn diese Reitbauers zwei Plätze vor Fat Duck und neun vor dem in Österreich inzwischen ja auch nicht ganz unbekannten Frantzen Lindeberg liegen, aber eben ums Eck im Stadtpark. Dann wird's doch wieder mal Zeit, ...

Foto: Katharina Schell

... zum Beispiel für diese geeiste Uhudlertraube unter den gemüsigen Amuses Bouches, wenn man ...

Foto: Katharina Schell

... vom Schinken absieht, den man hier von der Leine ziehen darf. Das fängt ja alles ziemlich schön und gut an bei Reitbauers. 

Es gibt ja Vollprofi-Gastrokritiker, die sie "bezaubernd, wirklich" nennen, und doch seufzend anfügen: "Aber dort zu essen, ist halt immer ein bisserl anstrengend." Nun bin ich ja alles andere als ein Vollprofi-Gastrokritiker, mon dieu! Aber ich habe, zugegeben, mit meiner STANDARD-Mailadresse reserviert. Wobei das wunschterminmäßig auch nicht hundert Pro funktionieren muss - immerhin aber binnen 14 Tagen und nicht wie bei Can Roca innert eines halben Jahres nur mit ernst zu nehmenden Fürsprechern. Und Frau Schell hat natürlich jeden Gang mehrfach fotografiert, das fällt schon auch ein bisserl auf. Aber gerade anstrengend fand ich's diesmal so gar nicht - wie früher schon das eine oder andere Mal.

Foto: Katharina Schell

Mit der jedenfalls mir jedenfalls vor einigen Jahren vielleicht etwas anstrengend wirkenden Serviceperfektion im Hinterkopf wirkt einer der noch immer nicht wenigen Jungkellner ungemein sympathisch, wenn er "Tomaten und ... - glaub ich" serviert. Ich hoffe, ich koste mit diesem kleinen, wirklich positiv gemeinten Schlenker keinen jungen Menschen den Job im elftbesten Restaurant der Welt.

 

Foto: Katharina Schell

Geradezu genetisch serviceperfekt erkennt man den jüngsten Mitarbeiter als echten Reitbauer. Laurenz R. nimmt Mineralwasser-Orders auf und serviert es schon nahezu formvollendet, er ist auch um 21 Uhr noch da, um zwischendurch ein wenig zu servieren oder weitere Brotwünsche aufzunehmen. Und wenn man ihn fragt, warum er denn hier arbeitet, ist rasch zur Hand, weil er es gerne macht. Und, okay, weil die Frau Mama dann einen extra Beitrag zu den Kinokarten leistet. Gut, dass die Kinder, wenn schon gerne, hier nicht umsonst arbeiten dürfen. Die Nachfolgefrage scheint jedenfalls schon mal gesichert.

Foto: Katharina Schell

Und während sich der Fidler da so verplaudernd versucht, über seine Mitschreibschwäche bei den Küchengrüßen hinwegzutäuschen, haben wir (und die 22 Einsatzkräfte in der Küche) schon Gang 1 eingelegt: Steinpilze mit gelbem Paprika und Butterhäuptl-Salat für Frau Schell und...

Foto: Katharina Schell

Rohe Bergforelle mit zweierlei Honigmelone, Gurke und Borretsch. Freundlicherweise umfasst die noch immer hohe Servicequalität Kärtchen mit detailreichen Beschreibungen jedes Ganges. Mich schreibfaulen Menschen freut das sehr, das Personal erspart sich viele, viele Nachfragen, nur Frau Schell mosert, dass sie das eigentlich gar nicht so im Detail wissen wollte.
Ich sage nur: Meine Bergforelle war klarer Sieger, vielleicht auch, weil ich Schells Steinpilzwucht als Randkoster nur sehr am Rande mitbekommen habe. Sie wirkte sehr zufrieden.

Foto: Katharina Schell

Was Frau Schell an den Kärtchen ein bisschen wuchtig findet, zeigen wir jetzt einmal anhand der wirklich wunderschönen Mairüben mit geräucherter Gänseleber und Sanddorn. Die schlüsselt das Kärtchen nämlich auf in ...

Foto: Katharina Schell
  • In Nussbutter confierte Mairüben
  • Mit Moxakraut geräucherte Gänseleber
  • Mit grünem Apfelsaft marinierte Cioggia- und Goldrüben-Scheiben
  • Fermentierte Mairüben-Scheiben
  • Apfel-Sanddorn-Mark
  • Champignons
  • Mit Estragon & Balsamessig mariniertes Pilzkraut
  • Apfel-Sanddorn-Marinade
  • Sanddorn-Saft

Nun fand man, nur zum Beispiel, diesen Gang schon vor dem Lesen sehr, sehr spannend, aber nach der Lektüre kann man schon gar nicht anders als beeindruckt sein. Ich Dilettant löse diese Problematik für mich pragmatisch mit dem für häufigere Leserinnen und Leser erwartbaren Leitspruch: Also ich hätt das alles nicht derschmeckt. Gut also, dass ich's beeindruckt nachlesen kann.

Foto: Katharina Schell

Eine beeindruckte Rübe will aber auch ich, da bieten sich Gold- und Chioggia-Rüben (in Steinsalz gegart etwa und als "Rohkost") mit Schwarznessel, Haselnüssen und Würz-Tapenade an. Nicht so schön gerollt, aber sehr gut. Schade eigentlich, dass die Vegetarierin das nicht miterleben kann, was Herr Reitbauer an Geschmackserlebenissen allein mit Gemüse und ganz ohne Fleisch so aus der Küche schickt.

An dieser Stelle haben wir dann doch geschafft, die perfekte Steiereck-Logistik ein wenig außer Tritt zu bringen. Denn ich wollte natürlich unbedingt sehen, ...

Foto: Katharina Schell

... wie ein Mariazeller Saiblingsfilet auf dem Tisch im Wachs von Honigbienen gegart wird. Nicht irgendwelchen Honigbienen beliebiger Zahl, sondern "ein gut betreutes Bienenvolk mit 50.000 Arbeitsbienen, mehreren hundert Drohnen* und einer Königin", wie ich dem Beipacktext entnehme. Schließlich ist dieses aktionistische Gericht doch wohl das meistbesprochene und -beschriebene, man könnte also vielleicht von einem Signature Dish sprechen, wenn man Profigastrokritiker wäre und sich das also trauen könnte.

* Vgl.: Fidler, Anm.

Foto: Katharina Schell

Hier also gießt Frau Reitbauer den Honig auf den Saibling, für das Foto extra langsam, Schmeck's dankt neben vielen schönen Erlebnissen dieses Abends auch dafür.

Foto: Katharina Schell

Ich aber staune einfach, von der präzisen Zahl der Bienen abgesehen, bei der Beobachtung von Saibling und Wachs. Ein ästhetisches Erlebnis. Das ich nicht durch meine etwas profane Assoziation eines Fischfilets in der Lavalampe (wer diese Dinger noch kennt) trüben will. Aber anbringen muss ich's halt doch.

Foto: Katharina Schell

Hier wird der Saibling, einmal gewendet, von seiner Auflage befreit, bevor er zum Anrichten noch einen Sprung in der Küche vorbeischaut. Junge, komm bald wieder!

Foto: Katharina Schell

Und so sieht er aus, wenn ihn gelbe Rübe, Pollen und Rahm begleiten. Nicht nur optisch ein Erlebnis, mich hat an meinem merkbarer Salzgeschmack überrascht, aber beileibe nicht gestört.

A propos gestört: Wo bleibt nun der Irritationseffekt des Saiblings?

Foto: Katharina Schell

Frau Schell wurde, für sie überraschend, auf "Erdfrüchte" eingeladen, über Holzkohle gegrillt, mit "Gelbwurz-Caviar", laut Gebrauchsinformation "mit Apfel- und Zitronensaft, Distelöl und Gelbwurz gekochter Perlsago". Nun hat Frau Schell nichts gegen Erdfrüchte, aber eigentlich dachte sie, als Fischgang die gebratene Reinanke mit Artischocken aus dem Marchfeld bestellt zu haben.

Vielleicht hatten wir nicht ausreichend klar gemacht, dass sie sieben und ich sechs Gänge  wollte. Verrechnet hat uns Frau Reitbauer zwei Sechsgänger und einmal Erdfrüchte auf Haus. Frau Schell wirkte, als könnte sie damit ganz gut leben.

Foto: Katharina Schell

Vielleicht auch, weil ihr da schon wieder was auf wie an und unter der Zunge lag, der geschmorten nämlich, vom Kalb. Geschmort mit Bier, Whisky, Salzringlotten und Rhabarber. Und drauf, dran, drunter zum Beispiel Pak Choi, eingelegter grünfleischiger Rhabarber, Taglilien-Enfleurage mit Salzringlotten und argentinischem Minzstrauch, nein, ich schreib jetzt nicht das ganze Kärtchen ab, obwohl sich's schon noch einmal so atemberaubend liest wie es schön schmeckt.

Foto: Katharina Schell

Schön, sehr schön auch mein Baumspinat, vor allem dank Ochsenmark mit - okay, rot blühendem - Ysop, wirklich wunderbaren Spinat- und Erdäpfelnockerl, in Buttermilch offenkundig "sanft" pochiert, Triebspitzen vom Baumspinat und... Hach.

Foto: Katharina Schell

Noch viel hacher allerdings das Reh. Alles war ich bereit, Frau Schell zu überlassen und die Alternative zu nehmen, ich sage nur: Steinpilze! Aufgeben! Nur kosten! Aber den Rehbock hab ich mir geschossen, und das zurecht. Eierschwammerl dazu, junger Mais, Mais-Bisquit, eingelegte Marillen, Vogelmiere-Öl und Mais-Rehnatursaft. Alles gut und schön, aber das Reh. 

Foto: Katharina Schell

Frau Schell wehrte sich aber auch nicht lange gegen das Perlhuhn, bei dem mir gerade wieder einfällt, dass die Portionen im Steirereck schon relativ groß wirken. Wobei mir das bei meinem Rehbock so gar nicht auffallen wollte (okay, da bin ich befangen). Perlhuhn mit Senf, Bohnen und Sommertrüffel, am Knochen gebratene Brust, geschmorter Haxen, wenn man das bei diesem Tier ohne Verkleinerungsform sagen kann, knusprige Haut von selbigem - schon auch sehr wow. Aber natürlich im Vergleich mit dem Reh, ja, eh.

Foto: Katharina Schell

Nanu? Da war ja noch ein geeister Pericon-Polster, Pericon ist, wie ich inzwischen ergoogelt hab, Winterestragon, der sich durch starken Anisgeschmack auszeichnet, mit Mispeln, Monarde, Gurke und Blue Gin, in den, vereint mit Ananas und Apfelsaft, Wollmispeln eingelegt wurden. Ja, auch die Mispel will ihren Lebensabend schön verbringen.

Foto: Katharina Schell

Mich Süßverweigerer interessiert ja mehr der Käsewagen, unter besonderer Berücksichtigung der Rotschmiere. Wo, wenn nicht im Steiereck, würde ich da so fündig wie glücklich werden. Träume seither von einer Käsewagenentführung, natürlich mit kundig betreuendem Personal.

Foto: Katharina Schell

Frau Schell hingegen orderte die Himbeeren mit Pandan-Kuchen, in Himbeer-Soucco und Himbeeressig mariniertem Eiskraut, weißem Schoko-Kokos-Sorbet und Pandan-Eis. Das Sorbet gefiel auch mir, viel mehr aber noch ...

Foto: Katharina Schell

... die Himbeeren, die Frau Schell mir freundlicherweise größtenteils überließ. Und warum ich die so genial finde, verdanke ich Dilettant natürlich wieder diesem ungemein praktischen Kärtchen, erschmeckt hätt ich's natürlich nie: die Himbeeren waren "gefüllt mit geliertem Himbeer-Sturm". Derlei kann man naturgemäß vom Stockerauer Bauern seines Vertrauens am Straßenrand nicht erwarten.

Foto: Katharina Schell

Die Petits Fours rollen uns mit dem nächsten Wagen nach zum Rauchertischchen am Eingang - inszeniert als - von einem Wiener Juwelier gebrandete - Schmuckstücke. Wirklich spannend-fruchtlastig, sag selbst ich Süßmuffel, der sich da allerdings schon stark zurückhielt. Aber ein goldig-schokoladiges "Nugget aus dem Wien-Fluß" musste dann doch noch sein. Schon um meinem Ruf gerecht zu werden, vor nichts zurückzuschrecken - also selbst vor vermeintlichen Fundstücken aus dem innerstädtischen Rinnsal nebenan nicht.

Womöglich saßen wir dann doch einen Tick zu lange an dem Rauchertischchen und erweckten so den Eindruck, dass wir so auffällig fotografiert haben, um doch noch in den Genuss einer kleinen Aufmerksamkeit zu kommen. Stimmt zwar so nicht, aber Frau Reitbauers freundliche Einladung auf zwei Gläser Jahrgangschampagner in Rosé aus dem Hause Gobillard wollten wir dann doch nicht ausschlagen. Ein klarer Fall von Anfütterung, dieser Abend, keine Frage.

Ich back dann wieder eine Zeit etwas kleinere Brötchen, wie man wohl in Teilen Deutschlands sagen würde. Und bin schon gespannt, ob Schmeck's (ohne mein Zutun) womöglich noch Einblicke in die  Dreisternegastronomie des großen Nachbarn bekommt - und wie sie auf die in Österreich wirken. Ich jedenfalls bin gespannt. Bleiben Sie dran. (Harald Fidler, derStandard.at, 11.9.2012)

Foto: Katharina Schell