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Immer häufiger werden in Österreich Menschen mit laufenden Anträgen auf humanitäres Bleiberecht abgeschoben.

Foto: AP/Rudi Brandstaetter

Freitagmittag: Anruf in der Redaktion. Eine Frau ist dran, in heller Verzweiflung. Sie weiß keinen Ausweg mehr, denn am Morgen haben Polizisten an ihrer Tür geläutet. Sie wollten überprüfen, ob die Familie an ihrer Meldeadresse anzutreffen ist - also auch noch dort sein wird, wenn die Exekutive in wenigen Tagen wiederzukommen gedenkt: Um die Frau, ihren Lebensgefährten und drei kleine Kinder - sie stammen aus einem Staat außerhalb der EU - abzuschieben, nach sieben Jahren in Österreich. 

Dabei habe sie bei der zuständigen Behörde einen Antrag auf humanitären Aufenthalt laufen, schluchzt die Frau - mit Akzent, aber in fehlerfreiem Deutsch. Ihre Chancen, dass der Antrag positiv beschieden wird und die Familie dadurch das Recht zu bleiben erwirkt, seien gut; immerhin hätten sie und der Lebensgefährte Jobzusagen und ein Deutschdiplom auf Niveau B1 in der Tasche. Die Kinder seien alle drei in Österreich geboren und gingen in den Kindergarten.

Doch für die Fremdenpolizei sei das irrelevant: Ein noch unentschiedener Antrag auf humanitären Aufenthalt stoppe die Ausweisung nicht, wodurch die Abschiebung rechtmäßig ist. "Mein Kleinster ist erst am Montag in den Kindergarten gekommen, alles hat sich so gut entwickelt - und jetzt wird uns das alles kaputtgemacht, nach so langer Zeit!" 

Wöchentlich Problemfälle

Freitagnachmittag: Gespräch mit einer Flüchtlingshelferin. Sie wisse nicht mehr, wo mit dem Beraten anzufangen: "Zur Zeit kommen wöchentlich Leute, die seit fünf, sieben, manchmal sogar zehn Jahren in Österreich sind und jetzt unmittelbar vor der Abschiebung stehen". Da sei sei zum Beispiel eine Alleinerziehende mit einem einjährigen Baby: Ausweisung rechtskräftig, Antrag auf humanitären Aufenthalt gestellt. Ihr Abflugtermin samt Kind sei für in wenigen Tagen angesetzt. Und es gebe noch dutzende andere mehr: eine wahre Abschiebungskonjunktur, die an der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bis auf wenige Einzelfälle vorbeigehe - Normalität sozusagen. 

Die meisten dieser Schicksale sind Ausdruck eines mehrschichtigen Skandals: einer doppelzüngigen Behörden- und Fremdenpolizeipraxis:

Denn auch wenn es -erstens - rechtmäßig ist, dass Anträge bei Fremdenbehörden auf etwas derart Existenzielles wie das Recht, in einem Land, in dem man seit Längerem lebt, zu bleiben, von einem paralell dazu erwirkten Abschiebefehl unwirksam gemacht werden: Gerecht und richtig ist es nicht! Dass "Fremden" das Recht eingeräumt wird, nach einer Ausweisung um humanitären Aufenthalt einzukommen, dies von der abschiebenden Fremdenpolizei aber ignoriert und die Betroffenen noch vor der Entscheidung in der "Bleiberechts"-Sache außer Landes gebracht werden können, ist inhuman. In der Praxis führt es zu einer Art Wettlauf der Fremdenbehörde und der Fremdenpolizei: Wer entscheidet rascher? Das grenzt an Willkür.

"Daheim" ist nicht mehr daheim

Und es ist - zweitens - im Grunde unzumutbar ist, Menschen nach fünf, sieben, ja zehn Jahren zu zwingen, das Land wieder zu verlassen; zumal, wenn sie sich in Österreich inzwischen gut beingefunden, eingelebt, "integriert" haben. Nach so langer Zeit haben sie "daheim" meist keine Anknüpfungspunkte mehr - und all die investierten Privatgelder und öffentlichen Unterstützungen für Deutschkurse und Ausbildungen waren für die Fische, was ökonomisch dumm ist. Das sehen auch internationale ExpertInnen so, auf Uno- und EU-Ebene, aber die Abschottungsrealitäten Europas wirken dem krass entgegen.

Daher hat man sich auch in Österreich noch immer nicht dazu durchgerungen, gesetzlich Regeln festzulegen, laut denen Betroffenen nach einer bestimmten Anzahl von Jahren die Möglichkeit zu bleiben eingeräumt würde. Obwohl - ganz stimmt das nicht: Ein Gesetz, das allen Drittstaatangehörigen nach fünf Jahren im Land das Recht auf Aufenthaltsantragstellung einräumt, ohne gleichzeitiges Abschieberisiko, wurde sogar schon beschlossen, Mitte Juni, im Parlament. Doch noch ist es totes Recht: Es soll erst ab 2014 in Kraft treten, wenn auch das neu zu gründende Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) seine Arbeit aufnehmen wird.

Das steigert - drittens - den Willkürfaktor der derzeitigen Abschiebepraxis erheblich. Denn etliche AusländerInnen, die man jetzt zur Ausreise zwingt und in den kommenden eineinviertel Jahren noch zwingen wird, würden ab 2014 "Bleiberecht" erhalten: Sie jetzt zum Verlassen des Landes zu zwingen, ist auch demokratiepolitisch nicht ganz sauber, denn immerhin hat es ja dem Willen der Abgeordnetenmehrheit in National- und Bundesrat entsprochen, der Fünfjahresregel zuzustimmen. Und es geht hier nicht um die Gestaltung eines Antragsformulars, sondern um die Existenz von Menschen.

Fakten schaffen

Zusammengefasst bedeutet das, dass in den kommenden eineinviertel Jahren fremdenpolizeiliche Härte zu erwarten ist, die nachher zum Teil nicht mehr stattfinden wird dürfen. Und weil das so ist, - und weil abschiebewillige Kreise das wissen - sollen bis dahin, was Abschiebungen nach langem Österreichaufenthalt angeht, offenbar Fakten geschaffen werden. Sodass es 2014 in Österreich dann wohl nur mehr sehr wenige Ausländer geben wird, die die Fünfjahresregelung in Anspruch nehmen können. Und alles läuft ganz rechtmäßig - und außer den Betroffenen und ein paar am Limit arbeitenden NGOs regt es niemanden auf. (Irene Brickner, derStandard.at, 8.9.2012)