"Ich komme aus einem Ort in Niederösterreich, wo die Mütter den Babys den Kopf polieren, wenn der Landeshauptmann anrückt, und ihm die Kinder zum Küssen hinhalten." Vea Kaiser erklärt Michael Spindelegger das System Erwin Pröll.

Foto: Standard/Fischer

"Glauben Sie etwa, dass Werner Faymann so viele Anliegen hat, die er bisher nur gut verborgen hat?", fragt Michael Spindelegger.

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"Sie schieben alles auf den Umstand der Vermittlung, statt sich zu fragen, wie kann ich anders vermitteln", sagt Vea Kaiser. 

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ÖVP-Chef und Vizekanzler Michael Spindelegger übt im STANDARD-Sommergespräch heftige Kritik an Kanzler Werner Faymann. Spindelegger wirft ihm Inhaltsleere vor. Faymann gehe es nur um die Darstellung. "Da glaubt einer, dass er nur aufgrund seines Amtes als Bundeskanzler wirkt", sagt Spindelegger.

Die Kritik am Koalitionspartner ist ungewöhnlich scharf. "Glauben Sie etwa, dass Werner Faymann so viele Anliegen hat, die er bisher nur gut verborgen hat?", fragt Spindelegger und setzt Faymann in diesem Zusammenhang mit FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache gleich. Dieser habe ebenfalls keine Inhalte und wolle nur "durch aufgeregtes Herumfuchteln Aufmerksamkeit erregen".

In dem Gespräch, an dem auch die junge Schriftstellerin Vea Kaiser teilgenommen hat, räumt Spindelegger die Dominanz des niederösterreichischen Landeshauptmanns Erwin Pröll in der ÖVP ein, der immer wieder an die Öffentlichkeit dränge.

STANDARD: Ihnen ist vergangene Woche offenbar parteiintern eine Personaldebatte entglitten. Die geplante Rochade wurde abgesagt. Müssten Sie als Parteiobmann nicht mehr Leadership zeigen?

Spindelegger: Gut, dass Sie das ansprechen! Da habe ich große Kritik an Ihnen anzubringen: Ich bin keiner, der flunkert oder lügt, ich bin jemand, der die Wahrheit sagt. Zwischen dem, was ich mir überlege - und Gott sei Dank haben wir Gedankenfreiheit in Österreich -, und dem, was ein konkreter Plan ist, liegen Meilen dazwischen.

STANDARD: Aber Sie hatten doch alle Überlegungen in diese Richtung dementiert.

Spindelegger: Ich habe die Gerüchte dementiert. Es gab die Überlegung, dass ich ins Finanzministerium wechsle, das haben wir diskutiert. Das habe ich ja nicht dementiert. Ich habe diese ganze Personalrochade bis hin zum Klubchef und zum Nationalratspräsidenten dementiert, das war nur ein Gerücht in den Zeitungen.

STANDARD: Aber der Wechsel ins Finanzministerium war eine ernsthafte Überlegung?

Spindelegger: Natürlich. Es ist wie in einem Unternehmen, man muss sich auf Marktgegebenheiten einstellen, man muss schauen, dass man sich optimal aufstellt. In schwierigen Zeiten erschien es uns jetzt aber zielführender, das Team nicht umzubauen.

STANDARD: Hat ein Politiker wie Spindelegger das Potenzial für eine Hauptfigur in einem Roman?

Vea Kaiser: Damit würde ich mir wahnsinnig schwertun. Wenn man einen Roman mit einem starken Protagonisten schreiben möchte - und ich bin sehr figurenzentriert -, dann benötigt man gleich auf den ersten Seiten eine starke Charakterisierung, man muss eine starke Motivation aufzeigen können. Dazu braucht es auch Gedanken, die man ernst nehmen kann. Da würde ich mir aber mit der gesamten Regierungsbank schwertun. Ich frage mich wirklich, was sind denn da die Motivationen, was sind die Programme, für die diese Personen stehen.

Spindelegger: Das verstehe ich gut. Aber um jemanden einschätzen zu können, seinen Charakter beurteilen zu können, muss man ihn in dieser Rolle kennen. Um jemanden beurteilen zu können, ob das Anliegen, das er hat, auch eines für mich ist, muss ich erst das Anliegen kennen. Ich werde ja fast nicht zu meinen Anliegen befragt, sondern nur zu Gerüchten, ob es eine Personalrochade gibt. Das ist dann das große Thema.

Kaiser: Das ist generell ein Manko in der österreichischen Politik: Eine Charakterisierung der Politiker wird zwischen diesen Personalrochaden und den wankenden Positionen immer schwieriger. Das ist auch gerade ein Problem, das meine Generation hat. Politiker sollten auch Identifikationsfiguren sein. Wir brauchen starke Charaktere, wir wollen klipp und klar wissen, wer wofür steht. Bei unseren Politikern kann man aber keine Geschichte herauslesen, das ist alles ganz schwammig.

STANDARD: Was ist denn die Geschichte, die Sie erzählen wollen?

Spindelegger: Meine Geschichte ist die, dass ich meinen Kindern ein besseres Österreich hinterlassen will. Dazu gibt es eine ganze Palette an Themen, wo ich das aufdröseln kann. Bei den Schulden, der Umweltsituation, der alternden Gesellschaft, bei der Zuwanderung oder dem Sozialsystem. Das sind die inhaltlichen Themen, um die es geht. Mir hat man immer vorgeworfen, der schaut nicht, wie er das präsentiert, der hat zu wenig Charisma, ist zu hirnorientiert, macht alles über den Inhalt, wie schrecklich. Dann höre ich von Ihnen, dass wir uns zu wenig um Inhalte kümmern. Glauben Sie mir: Wenn es mir nur darum ginge, mich ordentlich zu inszenieren, dann wüsste ich das ganz anders zu machen.

Kaiser: Meine Generation ist eine, die stark auf Vermittlung angewiesen ist. Diese Generation konsumiert Medien ohne Ende, da braucht es auch eine Außendarstellung, um zum Inhalt zu kommen. Ich bin auch sehr inhaltsorientiert, ich verstehe, was Sie meinen. Aber Sie schieben alles auf den Umstand der Vermittlung, statt sich zu fragen, wie kann ich anders vermitteln, wie kann ich meine Inhalte so transportieren, damit sie auch ankommen.

Spindelegger: Andere achten nur auf den Transport und haben keine Inhalte. Oder glauben Sie, dass der Herr Strache ein inhaltsgetriebener Mensch ist? Oder glauben Sie etwa, dass Werner Faymann so viele Anliegen hat, die er bisher nur gut verborgen hat? Da geht es nur um die Darstellung. Da glaubt einer, dass er alleine aufgrund seines Amtes als Bundeskanzler wirkt. Der andere will durch aufgeregtes Herumfuchteln und lautes Schreien Aufmerksamkeit erregen. Das ist ein Stil, den ich nicht will. Das ist nicht meines.

STANDARD: Sie setzen auf innere Werte? Glauben Sie wirklich, dass ein Politiker damit punkten kann?

Spindelegger: Unsere Kampagne war auf Wertorientierung ausgelegt. Ich glaube, dass es eine tiefe Sehnsucht danach gibt, in dieser Oberflächlichkeit und in dieser Tagesaktualität auch etwas Längerfristiges zu erkennen. Das muss Politik auch bieten: Wofür stehe ich, was ist mein Wertekonzept? Das muss natürlich zeitgemäß formuliert werden. Daher Zukunft aus Tradition.

Kaiser: Das ist wieder interessant. Das Wertekonzept scheint das Narrativ dahinter zu sein: Woran orientiert man sich heutzutage in der Volkspartei? Christliche Werte und so weiter. Finden Sie nicht, dass das alles Werte sind, die ein bisschen bröckeln? Gerade die ÖVP hat in der letzten Zeit nicht unbedingt durch eine Werteorientierung auf sich aufmerksam gemacht. Ich war schon erschrocken, als es auf einmal einer Ethikkommission bedurfte, um das zu machen, was eigentlich völlig normal sein sollte. Würden Sie wirklich sagen, österreichische Politiker oder gerade Politiker Ihrer Partei vertreten noch diese Werte?

Spindelegger: Ich lege da meine Hand ins Feuer, dass ein Großteil derer, die in meiner Partei arbeitet, diese Werte verfolgt. Die ÖVP besteht aus fast 700.000 Mitgliedern und 75.000 Funktionären. Wir haben 1700 Bürgermeister in ganz Österreich. Diese Leute machen eine ordentliche Arbeit. Das Engagement ist der bestimmende Faktor. Die machen das nicht wegen des Geldes. Ein Bürgermeister verdient 2000 Euro im Monat, das Geld ist also nicht seine Triebfeder. Er ist getrieben von einer Grundanschauung, das sind unsere Werte. Und ich formuliere sie auch: der Wert, fleißig zu sein, der Wert, initiativ zu sein, sich etwas aufzubauen und etwas im Leben zu leisten und zu erreichen.

Kaiser: Die ÖVP lebt doch sehr stark von der Struktur am Land, von den Traditionen, vom Weitererhalt dieser Traditionen. Die Leute am Land wählen ÖVP, weil das immer schon so war. Wenn der Bürgermeister sagen würde, wir errichten hier ein Atommüll-Endlager, würden die Bürger auch Ja dazu sagen, so lange es noch beim Frühschoppen eine Runde Gratisbier gibt. Dennoch, diese christlichen Werte bröckeln. Auch die Orientierung am Fleiß nimmt ab.

STANDARD: Manche arbeiten fleißig in die eigene Tasche. Leute wie Ernst Strasser haben die Wertehaltung der ÖVP ordentlich ausgehöhlt.

Spindelegger: Der Fall Strasser ist für mich endgültig erledigt. Die Geschichte ist aufgearbeitet, und er ist aus der Partei geworfen worden. Der ÖVP und unseren Leuten hat man das am allerwenigsten zutraut. Das Video von Ernst Strasser ist unerträglich. Das ist mit der Grundethik eines Politikers völlig unvereinbar.

STANDARD: Frau Kaiser, Sie kommen aus einer kleinen Gemeinde im Wienerwald. Sie kennen sicherlich auch den Landeshauptmann. Wie oft sind Sie Erwin Pröll schon begegnet?

Kaiser: Fünfmal bisher. Das begann im Kindergarten, da durften wir für den Landeshauptmann tanzen. In der Volksschule durften wir für ihn singen, im Gymnasium durften wir noch einmal für ihn singen, dann im Gymnasium einmal die Hand schütteln. Später im Rahmen meiner schriftstellerischen Tätigkeit durfte ich mich mit ihm fotografieren lassen. Ich finde das schon interessant, wie man als Kind in Niederösterreich von früh auf indoktriniert wird: "Da ist der Landeshauptmann, lieb lächeln, tanzen, wenn der Landeshauptmann kommt." Als Kind reflektiert das man nicht. Im Nachhinein frage ich mich schon, was ist das für ein Konzept? Ich komme aus einem Ort in Niederösterreich, wo die Mütter den Babys den Kopf polieren, wenn der Landeshauptmann anrückt, und ihm die Kinder zum Küssen hinhalten.

STANDARD: Täte Ihnen das auch gefallen?

Spindelegger: Ich bin nicht neidig, ehrlich gesagt. Für mich haben sie weder getanzt noch gesungen.

Kaiser: Inwieweit ist es in unserer Zeit gerechtfertigt, dass ein Politiker so einen Personenkult rund um sich herum aufbaut, pflegt und kultiviert? Das ist ja fast so ein Sonnengott-Regime.

Spindelegger: Sie bedienen Stereotype. Das ist nicht okay! Niederösterreich ist heute ein blühendes Wirtschaftsland mit Kultur und einem gesunden Lokalpatriotismus. Diese Politik ist auch sein Verdienst. In Niederösterreich sind viele begeistert von ihm, gerade weil er die Landesvaterfigur abgibt.

STANDARD: Ist es für Sie als Parteichef nicht eine Last, so einen erdrückend starken Landeshauptmann im Hintergrund zu haben, der Ihnen auch noch die Themen vorgibt, denen Sie dann mehr oder weniger nachhüpfen müssen?

Spindelegger: Das erscheint manchen natürlich so, das verstehe ich. Ich bin überzeugt davon, hätte ich die Rolle des Bundeskanzler, würde das anders erscheinen. Da würde man sagen, die zwei Mächtigen des Landes arbeiten wunderbar zusammen. Das hängt halt ein bisschen mit der Rolle zusammen. Aber ich habe mit ihm wirklich eine enge Freundschaft, ich sehe überhaupt nicht ein, warum ich mir da einen Konflikt aufoktroyieren lassen soll ...

STANDARD: Aber er stellt sich als Persönlichkeit schon viel stärker in den Vordergrund, als Sie das tun.

Spindelegger: Ich vergleiche das nur mit meinem Vorgänger. Das war ständig ein Konflikt zwischen Pröll und Pröll. Das haben auch alle gespürt. War das gut für uns? Nein. Wenn wir uns vorher abstimmen, soll er in der Öffentlichkeit doch den Vortritt haben und sagen: "Ich will das." Ist mir recht. Wir stehen auf einer Seite und machen das miteinander. Wir machen das auch für die ÖVP. Und da halte ich mich manchmal eben zurück. (Michael Völker, DER STANDARD, 8.9.2012)