Die Lunge als Nische für T-Zellen. Die Aufnahmen zeigen autoaggressive T-Zellen (grün, Pfeile), die sich in der Lunge ansammeln. Dort erlangen sie die Fähigkeit, in ihr Zielgewebe, das Zentralnervensystem, einzuwandern. Die Zellen akkumulieren in speziellen lymphatischen Strukturen (BALT, gelber Pfeil) und bewegen sich an der Außenseite und innerhalb der Luftleiter (Bronchien, Br), die sie als eine Art Straße nutzen. Einige Zellen durchwandern auch die Luftsäckchen (Alveolen, Al).

Abb. links: Aufnahme eines Lungenexplantats mittels Zweiphotonenmikroskopie.

Abb. Mitte: Zeitprojektion über einen Zeitraum von zehn Minuten. Rote Punkte: stoppende T-Zellen, gelbe Linien zeigen den zurückgelegten Weg wandernder T-Zellen an.

Abb. rechts: 3-D-Rekonstruktion.

Foto: umg/imsf

Autoimmunerkrankungen werden durch Immunzellen ausgelöst, die sich gegen das eigene Gewebe richten. So gelingt es den Immunzellen bei der Multiplen Sklerose (MS), in das Nervengewebe einzudringen und dort zerstörerische Entzündungen zu verursachen, die mit schweren Ausfallserscheinungen einhergehen können. Das gesunde Gehirn ist praktisch frei von jeglichen Immunzellen, da das Nervensystem vom übrigen Körper durch spezialisierte Blutgefäße abgeschottet ist, die den Übertritt dieser Zellen aus dem Blut verhindern.

In der Lunge programmiert

Warum die Zellen diese körpereigene Schranke bei der MS überwinden und scheinbar mühelos in das Hirngewebe eindringen können, war bislang unklar. Ein Forscherteam um Alexander Flügel vom Institut für Multiple-Sklerose-Forschung (IMSF) hat herausgefunden, dass die krankmachenden Immunzellen in der Lunge darauf programmiert werden, beweglicher zu werden und effizient Gefäßbarrieren wie die Blut-Hirn-Schranke zu durchbrechen. Die Forschungsergebnisse wurden in der internationalen Fachzeitschrift "Nature" veröffentlicht. 

Aktivierung ohne direkte "Wanderung"

"Wir wollten herausfinden, wo genau im Organismus die T-Zellen aktiviert werden und welche speziellen Eigenschaften sie dazu befähigen, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden." Die Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen konnten zunächst feststellen, dass krankmachende T-Zellen nicht sofort nach Aktivierung in das Gehirn einwandern. Sie müssen diesen Schritt erst "erlernen". In einem Lernprozess richten sich die T-Zellen komplett neu aus. Sie stellen die Zellteilung ein und drosseln die Produktion von Eiweißen, mit denen sie Entzündungsprozesse anfachen. Stattdessen werden sie auf "Wanderung" programmiert: Sie werden beweglicher. Dafür erscheinen spezialisierte Rezeptoren auf ihrer Zelloberfläche. Diese kleinen Antennen ermöglichen es ihnen, sich in der jeweiligen Umgebung zu orientieren und sich an Zellstrukturen festzuhalten.

Die Wissenschaftler entdeckten einen bislang für T-Zellen unbekannten Rezeptor namens Ninjurin-1. Dieser Rezeptor steuert speziell das Anheften der T-Zellen an der Innenseite der Gehirngefäße und ist damit für die Einwanderung der Zellen aus der Blutbahn in das Nervengewebe von wesentlicher Bedeutung. Im Gehirngewebe angelangt, läuft das Programm umgekehrt ab: Die eingewanderten T-Zellen werden reaktiviert, produzieren Entzündungsstoffe und setzen damit den gewebeschädigenden Autoimmunprozess in Gang, der typisch ist für die Krankheit MS.

Umschaltstation und Depot

Wo im Körper die Wanderungsprogrammierung der T-Zellen stattfindet, konnten die Wissenschaftler herausfinden: Aktivierte T-Zellen wandern aus dem Blutkreislauf direkt in die Lunge ein. Im Lungengewebe bewegen sich die Zellen mit zunehmender Geschwindigkeit entlang der dortigen Gefäße und Luftwege in die anliegenden Lymphknoten, gelangen dann über die Milz und erneut über die Blutzirkulation schließlich in das zentrale Nervensystem.

Kurioserweise kriechen die Zellen in der Lunge nicht nur an der Außenseite der Bronchien, sondern sie krabbeln auch innerhalb der Luftleiter, in der die Atemluft zirkuliert. Mittels einer spezialisierten Mikroskopietechnik beobachteten die Forscher im lebenden Lungengewebe, dass die T-Zellen die Bronchien offenbar als eine Art Schnellstraße nutzen. Und in der Tat sind aktivierte T-Zellen sogar nach direkter Einführung in die Luftwege in der Lage, einen autoimmunen Erkrankungsprozess in Gang zu setzen. Das Lungengewebe ist auch der Ort, wo die ersten entscheidenden Schritte in Richtung Wanderungsprogrammierung der krankmachenden T-Zellen stattfinden. (red, derStandard.at, 9.9.2012)