Inan Türkmens "Wir kommen" ist das Paradebeispiel für die erfolgreiche Vermarktung von Migrantengeschichten. Das Rezept: Ein einprägsames Cover mit Eyecatcher und ein möglichst profaner, aber emotionaler Titel.

Foto: olja alvir

Amir Al-Amin, Ana Tajder, Mehmet Emir, Melih Gördesli und Inan Türkmen – sie haben alle eine Gemeinsamkeit: Ihre Bücher lassen sich zu einer Sparte zählen, die man nur "mittelmäßige Migrationsliteratur" nennen kann. Ihre Werke sind Erinnerungen von nach Österreich eingewanderten Migranten und bearbeiten meist anekdotenhaft Schicksalsschläge, Lebensumstände und Vorurteile. Im Zentrum steht alleinig die Autobiografie – ein Leben für einen Einstieg ins Literaturgeschäft?

Türkischer Reiz

Diesen Trend gibt es schon etwas länger in Deutschland, naturgemäß kommt er mit einiger Verspätung jetzt auch auf den österreichischen Literaturmarkt. Während es in Deutschland eine besondere Konzentration auf türkische Autoren gab, waren diese in Österreich lange unterrepräsentiert. Ein Wegbereiter für das Interesse an migrantischen Autoren und Geschichten ist in Österreich sicherlich der Exil-Literaturpreis, durch den Autoren wie Julya Rabinowich und Dimitré Dinev "entdeckt" wurden. Doch die neue Migrationsliteratur – die nicht vergleichbar ist mit Rabinowich, Dinev oder etwa Radek Knapp und Michael Stavaric – ist nicht preis-, sondern vermarktungswürdig.

Autobiografisches Debüt

Die Randgruppenbiografie scheint eine Marktlücke zu sein, die Verlage durch den Erfolg preisgekrönter Autoren entdeckt haben. Folglich handelt es sich meist um die Debüts junger Autoren. Die Prognose lautet, dass sie One-Hit-Wonder bleiben werden: Die Verlage sind, das zeigen eindeutig die gravierenden Mängel im Lektorat, gar nicht an dem Text, am Inhalt interessiert. Sie kümmern sich nur liebevoll um die Verpackung.

Man könnte aber auch argumentieren, die Migranten-Autobiografie sei einfach ein zeitgemäßes Genre, das auf gesellschaftliche Bedürfnisse und politische Entwicklungen antwortet. Aber auch das wäre problematisch – als müsste man sich als migrantischer Autor zuerst seiner Vergangenheit entledigen, sie abschreiben, sie für einen Einstieg in die Szene versteigern, um danach "echte" Literatur machen zu können.

Auf eine exotisierende Art und Weise – beispielsweise durch Coverdesign – werden existenzielle Erfahrungen ohne literarischen Wert, ohne erzählerischen Kniff vermittelt. Mit einer voyeuristischen Neugier und wenig kritischem Blick wird die "Migrationsliteratur" dann auch konsumiert.

Holocaust-Wahlverwandtschaften

In diesem Sinne steht diese Art von Literatur vielleicht in einem Verwandtschaftsverhältnis zur Holocaust-Literatur. Es ist verpönt, sie zu kritisieren oder überhaupt von literarischer Qualität zu sprechen. Wie kann man nur das Buch schlecht finden, bei all diesen Ungeheuerlichkeiten, die darin beschrieben sind? Das käme einer unverschämten Entwertung der existenziellen Erfahrung, der Erschütterung, die die Erlebnisse der Autoren darstellen, gleich. Aber eine literarische Veröffentlichung ist eben kein einfacher Erlebnisbericht. Und wenn sie, wie die österreichische Migrationsliteratur der letzten Zeit, in ein Muster passt, dann ist es nicht Literatur, sondern Kitsch, Kolportage und Ausbeutung.

Nicht-Fiktion

Im englischsprachigen Raum würden diese Bücher vielleicht im "Non-Fiction"-Regal stehen. Das "Non-Fiction"-Genre wird allgemein mit Sachbuch übersetzt, dazu gehören unter den klassischen Sachbuch-Gebieten wie Naturwissenschaften und Gesellschaft etwa auch (zeit)geschichtliche Abhandlungen. Auf Englisch publizierende "Non-Fiction"-Autoren verzichten nicht (beispielsweise der Objektivität wegen) unbedingt auf eine Ich-Perspektive und einen persönlichen Zugang. Trotzdem: "Non-Fiction", keine Fiktion, keine Literatur beziehungsweise Belletristik. Im deutschsprachigen Raum leiden wir noch unter der Illusion, dass ein solches Ich immer ein literarisches Ich ist. Deshalb landen die Bücher oben genannter Autoren prominent auf dem Tisch für österreichische Literatur und nicht im Zeitgeschichte-Regal. Was, zugegeben, auch marketingtechnisch bestimmt kein Zufall ist.

Migrations-Marketing

Ein Buch, das trotz seines Platzes im Zeitgeschichte-Regal auf große mediale Resonanz gestoßen ist, ist Inan Türkmens "Wir kommen". Es ist das Paradebeispiel für die erfolgreiche Vermarktung von Migrantengeschichten. Das Rezept: Ein einprägsames Cover mit Eyecatcher, ein möglichst profaner, aber emotionaler Titel – und dann knappe hundert Seiten Anekdoten, gemischt mit (migrations)politischen Ansagen. Bei "Wir kommen" ist es in der Buchhandlung dank Positionierung und Design ganz klar, in welche Richtung Türkmens Debüt vermarktet werden soll. Das Buch möchte ganz klar in der Tradition, die Stéphane Hessels "Empört Euch!" losgetreten hat, stehen. Außerdem wurde es sehr klug als "Antwort auf Sarrazin" vertrieben. Dass das Buch lediglich eine verquere Mischung aus Alltagsgeschichten und unglaublich naiven Einschätzungen über die Türkei besteht, ist egal. Denn da wurde es dank hübschen Kleids als essenzieller Kommentar zur sogenannten Integrationspolitik schon über den Ladentisch gereicht.

Political Correctness

Die mittelmäßige Migrationsliteratur wird einerseits von Migranten konsumiert, die auf ein Identifizierungsangebot und Möglichkeiten hoffen, heftig mit dem Kopf zu nicken: "Das habe ich auch erlebt! Genau das habe ich mir auch neulich in der Straßenbahn gedacht!" Und andererseits von der Mehrheitsbevölkerung: Für sie ist es fast schon ein politisches Statement, diese Bücher zu lesen – nicht nur jene, die ausdrücklich um eine kontroverse These herumgebaut sind wie Türkmens "Wir kommen". Man wähnt sich auf der sicheren Seite, man ist Förderer der Migrantenkultur, verbreitet eine migrationspolitische Ansage per Literaturkonsum.

Abgelutschte Anekdoten

Wünschenswert wären ein Abgang von der Eintagsfliegen-Biografie und eine ernsthafte Förderung junger migrantischer Talente. Diese können abgesehen von ihrer Lebensgeschichte nämlich vielleicht auch anderes bieten. Momentan gibt es eine große Konzentration auf platte Anekdoten, doch spannend wäre, welche neue Form, welcher neue Stil(-Bruch) entstehen könnte. Durch Mehrsprachigkeit, ungewöhnliche Bilder, durch Migrationserfahrung eventuell ungehörte Geschichten. Oder, falls die Autobiografie für migrantische Autoren wirklich eine besondere Bedeutung hat, vielleicht ein Hinterfragen des Genres, ein Spiel mit der Textgattung. Aber keine platten, schlecht erfundenen Anekdoten und Straßenbahn-Diskriminierungsstorys mehr: Sonst werden die unsäglichen "Migrationshintergrund an sich ist keine Qualifikation"-Rufe noch lauter. (Olja Alvir, daStandard.at, 6.9.2012)