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Heinrich Neisser rät seiner Partei: "Die ÖVP muss sich öffnen."

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STANDARD: Wenn Sie die ÖVP derzeit sehen, was sehen Sie da?

Neisser: Es ist ein Bündnis der Ratlosigkeit. Es sind offensichtlich sehr viele zentrifugale Kräfte unterwegs, die es wirklich schwer machen, die Partei überhaupt zu führen. Ich habe schon gewusst, dass die Partei mit Schwierigkeiten konfrontiert ist, aber diese Kleinlichkeit im politischen Denken habe ich mir nicht mehr erwartet. Die ist offensichtlich in einem Ausmaß da, das wirklich nahezu parteischädigend ist.

STANDARD:Welche parteisprengenden zentrifugalen Kräfte sind das?

Neisser: Das fängt bei der bündischen Struktur an. Ich halte die Diskussion jetzt deshalb für so problematisch, weil man sich offensichtlich gegen jede Personalentscheidung aus rein bündischen Interessen wehrt. So kann man in einer Partei eigentlich keine Personalpolitik betreiben, wo das Wesentliche ist, dass man sich "seine Leute", wie man zu sagen pflegt, nicht rausschießen lässt. Dass das in dieser Form heute noch in der ÖVP da ist, ist erschütternd. Es hat früher so Phasen gegeben, in denen die personelle Großzügigkeit in diesem Denken zumindest etwas stärker war.

STANDARD: Apropos personelle Großzügigkeit: ÖVP-Chef Michael Spindelegger wollte lieber Finanzstatt Außenminister sein. Problem: Wohin mit Maria Fekter? Ab in den Klub! War das eine gute Idee?

Neisser: Ich weiß nicht, welche Erwartungen er damit verbunden hat, aber wenn man solche Personalentscheidungen trifft, dann muss man auch seine eigene Stärke richtig einschätzen. Ich glaube, das Ganze war auch eine Fehleinschätzung seiner Macht und Möglichkeiten, die er in der Partei hat. Ich halte jetzt von diesen Personaldiskussionen ohnehin nicht viel, denn immerhin ist in einem Jahr die Wahl. Diese schwierige Phase soll man nicht nur damit belasten, dass man dauernd an einen Regierungsumbau denkt. Ich glaube, das ist für Michael Spindelegger zu spät. Er hat einen Fehler gemacht: Er hätte bei Antritt des Amtes die Annahme des Amtes mit seinen personellen Vorstellungen verbinden und die zur Bedingung machen müssen. Die Augenblicke, wo man die Stärke hat, so was durchzubringen, sind relativ selten, und jetzt sind sie offensichtlich nicht mehr da. Viel Spielraum hatte er von Anfang an nicht.

STANDARD: Haben Sie erwartet, dass Spindelegger so schnell in eine Obmanndebatte schlittert?

Neisser: Nein. Wie weit diese Obmanndebatte jetzt wirklich Thema war, kann ich als Außenstehender nicht beurteilen. Ich glaube nur, die ÖVP ist ja nicht so besetzt, dass man sagen kann, die Alternativen drängen sich geradezu auf. Das ist nicht der Fall.

STANDARD:Gäbe es im Moment eine Alternative zu Spindelegger?

Neisser: Ich sehe sie nicht.

STANDARD: Finanzministerin Maria Fekter und Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner werden immer wieder dafür genannt.

Neisser: Ich glaube, sie würden es in der Position des Parteiobmanns um kein Jota leichter haben. Denn ob dort einer vom ÖAAB sitzt, der den Wirtschaftsbund gegen sich aufbringt, oder ob das einer vom Wirtschaftsbund ist, der den ÖAAB gegen sich aufbringt, ist schlussendlich dasselbe.

STANDARD:So wie Sie das beschreiben, heißt das doch - egal, wer Parteichef ist, die ÖVP ist durch die Bünde quasi strukturell handlungsunfähig und gefesselt?

Neisser: Ja, die Diskussion über die Bündereform in der Partei hat ja Tradition. Ich habe vor 40 Jahren Vorschläge präsentiert, dass man die Relation zwischen den Bünden etwas ändert oder entschärft. Eigenartigerweise haben die Bünde in den 1990ern und in den ersten zehn Jahren dieses Jahrhunderts nicht diese entscheidende Rolle gespielt wie heute. Da findet jetzt offensichtlich ein Revitalisierungsprozess statt, der der Partei nicht guttut. Das ist eine veraltete Struktur. Wenn man eine Parteireform angeht, müsste man auch bei diesen Dingen ansetzen. Ein Stellenplan für bündische Interessen - das hat's früher ja gegeben - ist heute veralteter denn je.

STANDARD: Was muss Spindelegger jetzt aus Ihrer Sicht tun?

Neisser: Die ÖVP darf diesen ganzen Trubel nicht mit in den Wahlkampf nehmen, das wäre wirklich tödlich. Dann kommt das Ende früher als man glaubt. Ich würde ihm empfehlen, dass er die Partei in den nächsten Wochen einschwört auf ein Parteiprogramm, das muss vor allem inhaltliche Positionen enthalten, die würde ich relativ früh und klar formulieren. Ich glaube, man kann die Attraktivität der ÖVP jetzt durch irgendeine Rochade oder einen anderen Obmann gar nicht steigern. Die Probleme liegen ja woanders, nicht nur in den Personen.

STANDARD: Sie waren selbst viele Jahre lang ÖVP-Politiker, ich unterstelle jetzt einmal, dass Ihnen die Volkspartei irgendwie noch immer am Herzen liegt. Wie kann man sie wieder attraktiv machen?

Neisser: Zuerst müsste sich die Partei in ihrer gedanklichen Struktur modernisieren und sich wirklich überlegen: Was will ich?

STANDARD: Was will die ÖVP jetzt?

Neisser: Na ja, es ist ja alles eine Ansammlung von Beliebigkeiten. Jeder deponiert seine Wünsche und glaubt, die ÖVP wird sie erfüllen. Man muss beim Begriff Ideologie vorsichtig sein, aber ich glaube, man kommt nicht umhin, der Partei wieder ein gewisses ideologisches Grundgerüst zur Verfügung zu stellen. Die ÖVP hat seit den 1970er- und 80er-Jahren eigentlich keine gedankliche Grundsatzdebatte geführt. Und sie kommt nicht umhin, auch über die Organisation nachzudenken, weil die völlig kontraproduktiv ist im Hinblick auf das Gebot der Offenheit und der Öffnung einer Partei. Die Partei muss sich öffnen. Das ist natürlich doppelt schwierig zu einem Zeitpunkt, wo die bündischen Organisationen offensichtlich alle wieder ihre Machtgelüste gestärkt und aufgefrischt haben. In einem Jahr wird sich nicht viel ändern, aber die ÖVP muss beginnen, sich ein neues Gewand zu verpassen.(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 5.9.2012)