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In der tunesischen Verfassung sollen die Frauen den Männern absolut gleichgestellt sein.

Foto: REUTERS/Zoubeir Souissi

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Mustafa Ben Jaafar

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STANDARD: Vor knapp einem Jahr wurde nach der Revolution die Verfassungsgebende Versammlung gewählt. An welchem Punkt stehen Sie mit dem Grundgesetz?

Ben Jaafar: Wir sind jetzt, nach Monaten intensiver Arbeit in den Ausschüssen, an einem sehr wichtigen Punkt angelangt. Wir beginnen mit einer offenen Debatte, nun müssen wir den Verfassungstext verbessern, der auf einem weißen Blatt Papier entstanden ist. Nun gibt es ein argumentatives Hin und Her, dann eine Plenardebatte, in der wir Artikel für Artikel vorgehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir noch im Dezember die neue Verfassung annehmen und mit der Budgetdebatte beginnen können. Schön wäre eine Zweidrittelmehrheit.

STANDARD: Mehrere Artikel im Verfassungsentwurf sind ja nicht unumstritten ...

Ben Jaafar: ... ja, so wie in jeder Demokratie. Es gibt Diskussionen, vor allem über zwei Kapitel. Zum einen geht es um die Frage unserer Identität, um die Frage des Verhältnisses zwischen Religion und Politik. Wir debattieren über den Platz des Islam in politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen - ohne die Scharia.

STANDARD: Und der zweite Aspekt?

Ben Jaafar: Das politische System. Die einen würden eher ein parlamentarisches Konstrukt bevorzugen, andere wieder eher ein "gemischtes" Präsidialsystem, das eine gewisse Balance zwischen Präsident und Parlament garantieren soll. Ich bin aufgrund meiner Erfahrungen überzeugt, dass am Ende ein breiter Konsens stehen wird: eine schöne Verfassung mit Bezügen auf unser muslimisches Erbe, die aber gleichzeitig die universellen Menschenrechte betonen wird.

STANDARD: Wie bewerten Sie die Diskussion über die Rechte der Frauen? In einem Entwurf wird die Frau nur als "Ergänzung" zum Mann definiert.

Ben Jaafar: Die Rechte der Frauen liegen mir besonders am Herzen. Es ist aber klar, dass im postrevolutionären Tunesien die Debatte momentan in alle möglichen Richtungen geht. Vielleicht gab es in diesem Zusammenhang eine übertriebene Fokussierung auf diesen Begriff "Ergänzung", der juristisch ja kaum greifbar ist. Eine Verfassung muss aber präzise sein und darf keinen Raum für Interpretationen offen lassen. Ich versichere Ihnen: Niemand, absolut niemand in Tunesien stellt die Gleichstellung der Frau infrage. Natürlich gibt es Extreme, wie übrigens überall auf der Welt. Ich verspreche Ihnen: In dieser Frage wird es keine Unklarheit geben.

STANDARD: Der Westen zeigt immer wieder Furcht vor Ennahda, der islamistischen Mehrheitspartei. Ist diese tatsächlich unbegründet?

Ben Jaafar: Wie in anderen Demokratien auch gibt es bei uns eine Zusammenarbeit verschiedener Parteien. Es ist ein Modell wie das westliche, wo es Progressive, Sozialisten und Christdemokraten gibt, die den Bezug zur Religion sogar im Namen führen. Der Westen soll sich seiner eigenen Geschichte bewusst werden. Bei uns gibt es eine Zusammenarbeit zwischen religiösen und weltlichen Parteien. Bisher hat das auch gut funktioniert. Das tunesische Volk hat mehr als tausend Jahre Weisheit gesammelt und beweist immer wieder, Reformen meistern zu können. Jede Partei will ihre Ideen verbreiten. Und Ennahda ist eine solche Partei mit Anhängern, Programm und Plänen. Eines ist sicher: Unsere wird eine Verfassung aller Tunesier sein, nicht die einer einzigen Partei. Ennahda ist stark, aber nicht erdrückend. Und durchaus konsensorientiert.

STANDARD: War die aktuelle Entwicklung Tunesiens absehbar?

Ben Jaafar: Noch vor zwei Jahren hätte sich niemand ausmalen können, dass diese Diktatur, die so solide schien, dermaßen schnell in sich zusammenfallen würde. Das Volk hat den Geist dieser schönen Revolution nicht abgelegt. In weniger als einem Jahr haben wir transparente und demokratische Wahlen abgehalten. Und das Wunder geht weiter mit dieser Verfassung und der sich ständig verbessernden Sicherheitslage im Land. Und auch wirtschaftlich gibt es einen Neustart, etwa im Tourismus. Wir dürfen am Ende des Jahres mit einem Wachstum von 3,5 Prozent rechnen.

STANDARD: Wird der geflohene Diktator Zine El Abidine Ben Ali jemals vor Gericht gestellt werden?

Ben Jaafar: Es wäre gut, wenn Saudi-Arabien diesen Diktator ausliefern würde, damit für das Volk, das so viel Unrecht erdulden musste, Recht gesprochen werden kann. Wir wollen einen fairen Prozess, damit wir dieses Kapitel abschließen können. Aber ich mache mir da keine großen Hoffnungen: Saudi-Arabien ist nicht bereit nachzugeben. Wir werden aber die Auslieferung weiter fordern. Wo wir hingegen mehr Erfolg haben, ist die Rückführung der Werte und Güter, die von Ben Alis Clan ins Ausland geschafft worden sind. (Gianluca Wallisch, DER STANDARD, 5.9.2012)