Vor elf Jahren verlor der frühere Formel-1-Pilot Alessandro Zanardi bei einem Horrorunfall auf dem Lausitzring in Deutschland beide Beine, nun wird er als Handbiker bei den Paralympics an den Start gehen. Im Interview spricht er über seine ungewollte Rolle als Vorbild, die schönen Seiten seines "zweiten Lebens" und die Traurigkeit, die vor dem Wettkampf in ihm wächst.
Frage: Herr Zanardi, am 5. September steigt Ihr erster Wettkampf bei Paralympics. Sind Sie schön nervös?
Zanardi: Nervös nicht, aber voller Vorfreude. Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass ich gut abschneide. Ich habe alles dafür getan, habe jeden Tag mehrere Stunden trainiert, war kurz vor den Spielen auch im Trainingslager. Aber ich weiß nicht, wie gut die anderen sind und ob es genug war. Immerhin habe ich Anfang des Jahres mein erstes Rennen gewonnen und bisher eine gute Saison.
Frage: Wenn Sie das Abenteuer Paralympics mit dem vergleichen, was Sie als Rennfahrer erlebt haben: Wo ordnen Sie es vom Erlebnisfaktor und vom sportlichen Wert her ein?
Zanardi: Wenn ich es nicht für ein großes Abenteuer gehalten hätte, hätte ich es nicht bis nach London geschafft. Vom ersten Tag an hat mich das Handbiken glücklich gemacht. Aber auch, weil die Paralympics vom ersten Tag an meine Motivation waren. Jeder Trainingstag war also ein Teil dieses Abenteuers. Und deshalb muss ich sagen, werde ich mit jedem Tag, den es näher heranrückt, ein bisschen trauriger.
Frage: Wieso das denn?
Zanardi: Weil es danach vorbei ist.
Frage: Ist es für Sie keine Option, bis Rio 2016 weiterzumachen?
Zanardi: Ich weiß es nicht. Ich gehe in diese Spiele so, als wären es meine ersten und letzten Paralympics. Ich sage zwar, sag niemals nie. Aber in Rio wäre ich schon 50.
Frage: Und Sie haben sich ja nun schon als den "Michael Schumacher der Paralympics" bezeichnet ...
Zanardi: Genau. Aber das habe ich natürlich nur im Spaß gesagt. Es bezog sich darauf, dass alle meine Rivalen jünger sind als ich. Es ging nicht ums Talent. Michael Schumacher zu kopieren, wäre wirklich schwierig.
Frage: Was kommt denn dann nach den Paralympics?
Zanardi: Vielleicht bietet mir ja BMW einen Platz in der DTM an. Das wäre etwas, wozu ich schlecht nein sagen könnte. Klar ist, dass ich im Leben immer eine sportliche Herausforderung brauche, die mich ausfüllt. Und ich werde eine finden, auch wenn ich noch nicht weiß, welche. In jedem Fall brauche ich Wettkämpfe. Ich will mich mit anderen messen, und ich will beweisen, dass ich schneller oder besser bin. Das liegt mir im Blut.
Frage: Sie wirken so voller Tatendrang. Man spürt, dass Sie, trotz des schlimmen Unfalls vor elf Jahren und dem Verlust der beiden Beine ein glückliches Leben führen.
Zanardi: Mir ist etwas passiert, was nicht vielen Menschen passiert und was viele Außenstehende als schlimm empfinden. Aber ich habe in meinem zweiten Leben auch viele tolle, neue Dinge erlebt. Wenn ich noch zwei Beine hätte, wäre ich niemals nach London gekommen. Und als Motorsportler hätte ich niemals die Chance gehabt, eine Medaille zu gewinnen."
Frage: Was war die wichtigste Eigenschaft, die Ihnen half, das zweite Leben so zu meistern?
Zanardi: Neugierde. Es gibt zwei Dinge, die man im Leben braucht, um Erfolg zu haben. Harte Arbeit und ein Quäntchen Glück. Aber die Neugierde ist die wichtigste Eigenschaft, weil sie der Ursprung von allem ist. Durch sie entwickelt sich Leidenschaft. Und Leidenschaft ist der stärkste Antrieb. Und Optimismus hilft natürlich auch.
Frage: Ist der Umgang unter den Rivalen im Behindertensport eigentlich deutlich freundschaftlicher als im harten Motorsport-Business?
Zanardi: Zunächst einmal ist das, was wir hier tun, auch Hochleistungssport. Die Leute die uns sehen, sagen manchmal, es ist toll, wie wir von A nach B kommen. Aber das hier ist viel mehr. Wir fahren über 40 km/h. Im Durchschnitt. Erwirkt durch die bloße Kraft unserer Hände. Das ist ein sehr harter Wettkampf, und entsprechend groß ist auch die Rivalität. Aber natürlich steht die Formel 1 noch mehr im Fokus. Man steht ständig unter Beobachtung. So gesehen, ist es unter den Handbikern lockerer. Hier hat man mehr Zeit für Gespräche oder gratuliert sich auch mal nach dem Rennen.
Frage: Unter Beobachtung werden Sie auch stehen, denn für die meisten sind Sie neben Oscar Pistorius der Star der Paralympics...
Zanardi: Ich weiß, dass viele ein gesteigertes Interesse an mir haben. Aber ich gehe nach London als Sportler und nichts anderes. Vor allem in meiner Heimat sehen viele mich als Vorbild. Ich fühle mich aber nicht als Vorbild. Ich will nur mein Ding machen. Wenn andere mehr in mir oder dem, was ich mache, sehen, okay, danke, gerne. Es ist natürlich schon ein schönes Gefühl, dadurch, dass man etwas geschafft hat, anderen zu helfen. (sid, 4.9.2012)