Es ist nicht so, dass - wie manche Reaktionen vermuten ließen - am Sonntagabend der Mond vom Himmel über dem Olympiastadion zu London gefallen ist. Aber die Niederlage, die Superstar Oscar Pistorius über 200 Meter der Klasse T44 gegen den ebenfalls beidseitig unterschenkelamputierten Brasilianer Alan Fonteles Cardoso Oliveira einstecken musste, war doch die größte Überraschung in der bisherigen Geschichte der Paralympics.
Der "Schock" ("The Guardian") saß umso tiefer, als der 25-jährige Südafrikaner seinen 20-jährigen Erstbezwinger auf dieser Distanz unlauteren Wettbewerbes zieh. Oliveira habe zu lange Prothesen benutzt. Dieser Angriff verstörte im Land der ständig gepredigten und zumeist auch vorbildlich gelebten sportlichen Fairness. Er galt aber weniger dem Mann als dem seit der WM 2011 geltenden Reglement, wonach sich die erlaubte Prothesenlänge vor allem nach der Armlänge richtet, das aber auch andere, weniger stichhaltige Daten in die Berechnung einfließen lasse. Pistorius will schon seit längerem darauf aufmerksam gemacht haben, dass einige Kontrahenten mit Prothesen deutlich größer sind, als sie es mit Beinen sein könnten.
"Schuss ins eigene Knie"
Immerhin stimmten auch andere unterlegene Finalisten Pistorius zu, insgesamt überwog aber die Verwunderung, dass der bekannteste Behindertensportler das Thema überhaupt angezogen hat. Gar als einen "Schuss ins eigene Knie" bezeichnet die selbst einfach unterschenkelamputierte Wienerin Andrea Scherney, dreimalige Paralympics-Siegerin und in London für Österreichs Leichtathleten zuständig, die Reaktion von Pistorius. Denn so lebe die Debatte um das sogenannte Techno-Doping wieder auf.
Gegen den Vorwurf, er verschaffe sich durch die Benutzung von hochentwickelten Prothesen einen Vorteil, hatte sich Pistorius lange zu wehren. Schließlich setzte er beim internationalen Sportgerichtshof in Lausanne auch sein Startrecht bei Bewerben der Nichtbehinderten durch. "Jetzt stellt sich die Frage, ob nicht eher Oliveira dort mitmachen soll", sagt Scherney, die keinen Zweifel daran lässt, dass unter den Behindertensportlern nicht wenige Pistorius' Ausnahmestellung durch die Doppelstarts zumindest für problematisch halten.
Scherney ist auch ziemlich sicher, dass aus dem Lager der Nichtbehinderten Widerstand kommen wird. Schließlich lief Oliveira die zweiten hundert Meter in sagenhaften 9,80 Sekunden und kompensierte so gut zehn Meter Rückstand aus der ersten Hälfte. Konzentriert sich der athletisch noch verbesserungsfähige Sprinter auf die 400 Meter, um den Startnachteil, den alle Prothesenläufer haben, besser auszugleichen, muss sich nicht nur Pistorius anhalten. "Bisher hatten sie bei Olympia nichts gegen Pistorius, aber wenn es um Finalplätze geht, schaut es im Hinblick auf Rio de Janeiro 2016 ganz anders aus", sagt Scherney.
Die Debatte und den Ruch, ein schlechter Verlierer zu sein, hätte sich Pistorius sparen können. An dessen im Vorlauf erzielten Weltrekord ist Oliveira beim Triumph noch nicht herangekommen. (Sigi Lützow, DER STANDARD 4.9.2012)