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Bei schweren Schulproblemen wird häufig chemisch Abhilfe geschaffen.

Foto: APA/Rohrhofer

Die Nachricht ging durch die Medien: Noch bis Ende dieser Woche läuft in Oberösterreich ein Prozess gegen einen Arzt, der angeklagt ist, 67 Patienten suchtgifthaltige beziehungsweise psychotrope Medikamente verschrieben zu haben. "Ohne plausiblen Grund", meint die Staatsanwaltschaft. Der Angeklagte muss sich daher wegen Drogenhandels, schwerer Körperverletzung und schweren Betruges verantworten. Bei den problematischen Medikamenten handelt es sich vorwiegend um die Suchtgifte Substitol (wird in der Drogensubstitution verwendet) und Ritalin (wirkt beim Erwachsenen wie Amphetamin und aufputschend).

Häufiger verschrieben als Antibiotika

Letzteres wird in Österreich immer öfter verordnet. Der Wirkstoff Methylphenidat ist eine chemische Substanz, die wie Amphetamine oder Kokain wirkt. Allein in Wien hat sich die Zahl der Verordnungen seit 2003 laut Gebietskrankenkasse auf nahezu 7800 verdreifacht - vorwiegend bei Kindern und Jugendlichen. Die Bundeshauptstadt liegt damit international im Trend: Im Jahr 1993 haben deutsche Ärzte noch 34 Kilogramm Methylphenidat verschrieben, 2011 waren es 1,8 Tonnen. In den USA ist es bereits das am häufigsten verabreichte Medikament bei Kindern noch vor Antibiotika. Der Grund: Die Produkte werden Kindern mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) verschrieben. Und die scheint zuzunehmen.

Korrektur des Dopamin-Spiegels

Die wissenschaftliche Erklärung ist, dass die Kinder darunter leiden, dass ihre Gehirnzellen schlecht kommunizieren. Was sie sehen, hören oder lesen, alle äußeren Reize werden nicht normal gefiltert, gewichtet und verarbeitet. Zuständig dafür wäre der Botenstoff Dopamin, er steuert das Lernvermögen, die Aufmerksamkeit und das Schlafbedürfnis.

Ritalin (Hersteller Novartis) und andere Produkte wie Concerta (Janssen), Medikinet (Medice) und Strattera (Eli Lilly) korrigieren diesen Dopamin-Spiegel bei ADHS-Kindern: Es macht Trödler aktiver, Träumer konzentrierter und Zappler ruhiger. Eine Art Wunderpille für besorgte oder stressgeplagte Eltern und Lehrer.

Im Schnellverfahren

Gar nicht begeistert ist Reinhold Kerbl, Primar der Abteilung für Kinder- und Jugendliche am LKH Leoben/Eisenerz und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ): "ADHS wird heute oft viel zu schnell diagnostiziert und schnell medikamentös behandelt. Ich bin überzeugt, dass ich als Jugendlicher unter heutigen Voraussetzungen auch Ritalin bekommen hätte", erzählt er am Rande der Alpbacher Gesundheitsgespräche.

Ihm sei in der Schule einfach oft langweilig gewesen, und deswegen war er entsprechend unruhig, meint er. Andere würden vielleicht sagen: hochintelligent und chronisch unaufmerksam. Oder schlicht unterfordert. Krebls Rezept: "Ein geschickter Pädagoge weiß damit umzugehen und etwas mit der Energie solcher Kinder anzufangen. Vielleicht mit Zusatzaufgaben oder neuen Herausforderungen." Es sei aber oft einfacher, Tabletten zu verordnen, damit die Jugendlichen Ruhe geben.

Problem im System

Ganz verteufeln will Kerbl die Produkte auch nicht, helfen sie doch bei scheinbar lernschwachen Kindern, Schulerfolge zu verbessern, weil die Konzentrationsfähigkeit erhöht wird. Das habe aber eine Kehrseite - jene des wachsenden Leistungsdrucks in der heutigen Gesellschaft. "Dieser Leistungsdruck ist für viele Kinder nicht förderlich", sagt der Kinderarzt. Er beobachte oft, dass Eltern von ihren Kindern mehr verlangen würden, als möglich sei. "Viele erkennen einfach die Kapazitätsgrenze der Kinder nicht." Das Problem im System: Verschreibt ein Arzt nicht das gewünschte Ritalin, wird ein anderer gesucht.

Dabei gibt es nicht nur Kritik an der Menge der Verordnungen: Methylphenidat findet auch Anwendung bei der Narkolepsie und zur Steigerung der Wirksamkeit von Antidepressiva bei therapieresistenten Depressionen. Die Europäische Arzneimittelagentur empfiehlt bei der Behandlung von ADHS Methylphenidat, obwohl ihr Ausschuss für Humanarzneimittel herausgefunden hat, dass die Substanz auch "schwerwiegende psychiatrische Störungen" verursachen kann. Am häufigsten meldeten Ärzte und Patienten: Verhaltensauffälligkeiten, Wut, Aggression, Agitation, Tick, Reizbarkeit, Angststörung, Weinen, Depression, Schlaflosigkeit, Nervosität, psychotische Störung, Stimmungsschwankungen, Zwangsstörungen, Persönlichkeitsveränderungen, Halluzinationen, Lethargie, Paranoia und Suizidverhalten.

Übeltäter: einseitige Ernährung

Für den Ernährungsspezialisten, Pharmazeuten und Chef des Instituts für Nährstofftherapie Lungau, Norbert Fuchs, sind hyperaktive Kinder mit Lern- und Konzentrationsstörungen weder schlimm noch faul, sondern leiden an Nährstoffmangel. "Schuld trägt das einseitige Ess- und Trinkverhalten. Snacks und Burger aus Weißmehlprodukten, ergänzt durch Pommes frites und allzu süße Naschereien, hinuntergespült mit zuckerhaltigen Limonaden - ein idealer Mix, der auf Dauer den im Kindesalter nicht allzu üppig vorhandenen Reserven an Mikronährstoffen zusetzt", analysiert er. Dadurch gerate der Energiestoffwechsel ebenso durcheinander wie das Zusammenspiel der Nervenbotenstoffe.

Kinder würden nicht nur für das körperliche Wachstum, sondern auch für die Entwicklung der geistigen Leistungsfähigkeit sowie zum Aufbau eines starken Immunsystems eine möglichst ausgewogene Ernährung benötigen, die dem Organismus die lebenswichtigen Nährstoffe liefert. Fuchs: "Es sollten häufig Obst, Gemüse und Salate auf dem Speiseplan stehen, ergänzt durch Vollkornprodukte und hochwertige Pflanzenöle."

Immer öfter verordnen Ärzte neben Nährstofftherapien auch Omega-3-Produkte. "Viele Eltern fragen auch danach", sagt Kerbl. "Gerade bei schlechten Schulerfolgen." Er sehe selbst wenig positive Wirkungen, bestätigt aber, dass es positive Studien gibt. Der Vorteil, den der Kinderarzt in jedem Fall sieht: "Es schadet nicht." (Martin Schriebl-Rümmele, STANDARD, 3.9.2012)