Lorraine Daston meint, dass sich Geisteswissenschafter ihrer Stärken bewusst werden sollten. Sie hätten immer noch die besten Studenten.

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Literaturwissenschafter arbeiten mit Informatikern zusammen, um Shakespeare-Stücke zu identifizieren.

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Die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston verlangt von den Unis mehr Experimentierfreude bei den Studienplänen und bessere Arbeitsbedingungen für Doktoranden und Postdocs. Die Geisteswissenschaften sieht sie nicht in der Defensive. Peter Illetschko fragte.

STANDARD: In einer Metapher werden die Natur- und die Geisteswissenschaften als Kontinente bezeichnet. Dann wäre zum Beispiel die Biologie ein Land und die Biologie, die sich mit Ameisen beschäftigt, eine Stadt. Religionswissenschafter, die sich mit dem Islam auseinandersetzen, wären eine Stadt auf dem anderen Kontinent. Wie mühsam ist es, von einem Erdteil zum anderen zu gelangen?

Lorraine Daston: Es ist sicher nicht einfach, aber es gibt überraschende Querverbindungen zwischen Städten beider Kontinente, um in dieser Bildsprache zu bleiben: zum Beispiel zwischen der Literaturwissenschaft und der Informatik. Wenn Shakespeare-Experten wissen wollen, ob der Dichter ein neu entdecktes Stück zumindest zu einem Teil geschrieben hat, verwenden sie Textanalysemethoden, die von Informatikern entwickelt wurden – nach den Vorstellungen der Literaturwissenschafter.

STANDARD: Warum werden diese Grenzüberschreitungen nicht in den Studienplänen der Universitäten integriert?

Daston: An allen modernen Universitäten werden die Grenzen von Fächern überschritten – aber nur in der Forschung. Es scheint schwierig zu sein, diese Querverbindungen im Studium zu verankern. Da gibt es noch sehr wenig Angebote. Der nächste Schritt müsste sein, die begabtesten Studenten genau an dieser Forschung als wissenschaftliche Hilfskräfte teilnehmen zu lassen. In Deutschland übernehmen viele dieser Studenten Verwaltungsaufgaben. Sie sollten aber an die Forschung herangeführt werden, damit sie ein Gefühl dafür bekommen. Das wäre in einem Fachgrenzen überschreitenden Studiengang sicher sehr gut möglich. Ich halte diesen Ansatz sogar für notwendig, um ein Überleben der Wissenschaften zu ermöglichen: die Inspiration durch andere Fächer.

STANDARD: Warum wird im Studienalltag nicht experimentiert?

Daston: Man muss abwarten, ob es da nicht zu einer gewissen Dynamik kommt. Bisher fehlte auch ein klares Signal an die Studenten, was sie wo studieren können, wenn sie an eine Top-Universität wollen. Die Exzellenzinitiative wurde in Deutschland geschaffen, um das zu ändern. Nun sollte jeder wissen: Wenn ich Geschichte studieren will, gehe ich dahin, bei Biologie oder Physik dorthin. Bisher herrschte noch die veraltete Vorstellung vor, dass jede Universität alles bieten soll und das auch noch in einer hohen Qualität. Das aber ist ein Mythos. Die Studenten wählten die Uni in ihrer Nähe, und die war nicht immer die beste in diesem Fach.

STANDARD: Was muss neben der geförderten Schwerpunktbildung noch geschehen, um eine moderne Uni-Landschaft zu ermöglichen?

Daston: Da gibt es wahrscheinlich viele Antworten. Eine, die mir sofort einfällt, ist: Man sollte sich überlegen, wie Wissenschafter oder angehende Wissenschafter heute arbeiten müssen. Wir haben in unserem Institut in Berlin Mitarbeiter, die ausgebildete Genetiker sind, nach der Promotion aber dem Fach den Rücken zugekehrt haben. Ich habe nach den Gründen gefragt. Die wissenschaftliche Arbeit ist, wie es scheint, zur Fabriksarbeit geworden, in der Doktoranden und Postdocs immer weniger Autonomie haben.

STANDARD: Sie haben ja selbst auch nicht mit der Wissenschaftsgeschichte begonnen.

Daston: Ich habe mit Astronomie und Mathematik begonnen und, weil ich einen Astronomieprofessor hatte, der viel historisch arbeitete, Feuer für die Wissenschaftsgeschichte gefangen. Das war dann das letzte Refugium für mich, weil ich mich nicht entscheiden konnte. Ich hätte gern alles studiert.

STANDARD: Was genau fasziniert Sie an der Wissenschaftsgeschichte? Der Blick auf historische Zusammenhänge?

Daston: Jeder Historiker erkennt irgendwann einmal, wo die einzelnen Bäume stehen und wo der Wald. Je mehr man sich mit Einzelfragen beschäftigt, desto klarer wird, dass es ein Muster gibt, das über die Geschichte der Physik, der Biologie oder der Mathematik hinausgeht.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel nennen?

Daston: Ich habe mich mit den Anfängen der wissenschaftlichen Beobachtung im 16. und 17. Jahrhundert beschäftigt, und irgendwann ist mir aufgefallen, dass viele Wissenschafter, die dabei Pionierarbeit geleistet haben, Altphilologen waren. Sie adaptierten ihre Methoden, die sie bei altphilologischen Texten anwandten, für andere Fachgebiete. Das war eine frühe Form des Wissenstransfers zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften. Dadurch wurde die Beobachtung wissenschaftlich. Davor, in der Antike und im Mittelalter, führten Bauern, Matrosen oder Schäfer Naturbeobachtungen durch. Sie lieferten Korrelationen, aber keine Erklärungen. Dennoch hat niemand daran gezweifelt, dass dieses Wissen nützlich ist, man bezweifelte nur die Wissenschaftlichkeit.

STANDARD: Geisteswissenschafter scheinen heute weniger Einfluss auf den gesamten Wissenschaftsbetrieb zu haben. Zumindest klagen sie, dass die öffentliche Meinung über sie schlechter ist als die über Naturwissenschafter und dass sie auch weniger Förderung erhalten. Ist das gerechtfertigt?

Daston: Ich kann nur für Deutschland sprechen. Dort werden die Geisteswissenschaften vergleichsweise großzügig gefördert. Was bei dieser Diskussion vergessen wird: Die begabtesten, besten Studenten sind nach wie vor in den Geisteswissenschaften. Warum das so ist, weiß ich nicht. Man sollte sich jedenfalls nicht zu viele Sorgen machen, sondern die Wissenschaften zum Beispiel für mögliche Querverbindungen zu anderen Fächern öffnen. Und sich der eigenen Stärke und der Geschichte besinnen: Als Theodor Mommsen, der bekannte Historiker, die erste wissenschaftliche Projektarbeit im Team umsetzte und dafür gefördert wurde, also Big Science begründete, waren es die Naturwissenschafter, die verzweifelt meinten: Wir müssen auch ein Projekt auf die Beine stellen, um dafür gefördert zu werden.

(DER STANDARD, 29.8.2012)