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Heinz Fischer: "Wir können die Menschen für Europa nur dann gewinnen oder zurückgewinnen, wenn wir imstande sind, plausible Antworten auf das Unbehagen über wachsende Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zu geben."

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Die Europäische Union ist ein sinnvolles, auf Menschenrechte gestütztes Projekt, das die kulturelle Vielfalt, die sprachliche Vielfalt und die nationalen Besonderheiten in Europa unangetastet lässt und dennoch immer wieder Anfeindungen ausgesetzt ist.

Dieses sensible Projekt ist seit 2009 mit einer tiefreichenden und schwierigen Finanz- und Wirtschaftskrise konfrontiert, in der jene Auftrieb erhalten, die so tun, als wäre die EU ein fremdes und feindliches Territorium, dessen Interessen jenen des jeweils eigenen Landes unvereinbar gegenüber stehen - und umgekehrt. Die Krise ist daher ein besonderer Prüfstein für die Kraft des Integrationsgedankens und für die Erfolge gemeinsamer Anstrengungen.

Meines Erachtens ist es immer wichtig, aus der Geschichte zu lernen - aber in der jetzigen Situation ganz besonders.

Wir müssen jene Fehler vermeiden, die zwischen dem 1. und dem 2. Weltkrieg nicht nur ganze Volkswirtschaften, sondern auch die politischen Systeme dieser Länder zerstört haben.

Ich meine damit die für die damalige Krise charakteristische und mitverantwortliche Unfähigkeit zu internationaler solidarischer Zusammenarbeit und die verhängnisvolle Vernachlässigung von Wirtschafts- und Wachstumsimpulsen im Vergleich mit anderen wirtschaftspolitischen Zielsetzungen. - Um es noch deutlicher zu sagen: Sparen ohne Wachstum war kein Erfolgsmodell und ist auch heute keines.

Um diese Fehler zu vermeiden und gemeinsam die richtigen Schritte zu setzen, müssen wir uns aber auch die dafür notwendigen Instrumente schaffen, wobei der Zeitfaktor eine ganz wichtige Rolle spielt.

Es geht aber auch um wichtige Einzelmaßnahmen, wie zum Beispiel eine wirksame und zentrale Bankenaufsicht, um ein europaweites Bankeninsolvenzrecht oder einen Abwicklungsfond. Damit soll erreicht werden, dass Verluste der Banken nicht auf die öffentlichen Haushalte abgewälzt werden.

Alle diese Probleme verlangen nach einer systemischen europäischen Lösung, und ein Teil dieser Lösung besteht wohl in einer stärkeren Rolle der EZB, worüber ja derzeit intensiv diskutiert wird. Parallel dazu müssen auch bessere Möglichkeiten für eine wirksame gemeinschaftliche Kontrolle geschaffen werden. Mit anderen Worten: die Elemente einer finanzpolitischen Union müssen verstärkt werden. Letztlich wird ein weiterer Verfassungskonvent notwendig sein, um weitere Bauelemente für das Europa der nächsten Generation zu erarbeiten.Dabei müssen aber zwei Dinge sorgfältig auseinander gehalten werden, nämlich: die unverzichtbaren Sofortmaßnahmen zur Bewältigung der akuten Krise einerseits und längerfristige Maßnahmen für die Weiterentwicklung des europäischen Hauses andererseits. Mit dem, was sofort geschehen muss, auf Ergebnisse eines zukünftigen Konventes zu warten, wäre unverantwortlich.

Fest steht aber auch, dass wir die Menschen nur dann für Europa gewinnen oder zurückgewinnen können, wenn wir plausible Antworten auf drängende Fragen und nicht zuletzt auf das Unbehagen über wachsende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geben können. Der über Jahrzehnte hinweg mit so viel Engagement aufgebaute europäische Wohlfahrtsstaat kann das Phänomen neuer Armut und wachsender Ungleichheit unter den veränderten Umständen in vielen Staaten nicht mehr zufriedenstellend lösen. Besonders trist ist die Lage für Millionen von Jugendlichen. In der EU sind heute schon mehr als 5,5 Millionen Menschen unter 25 Jahren ohne Beschäftigung und weitgehend auch ohne berufliche Perspektive. Diese Menschen gehen für den Europagedanken verloren, wenn wir nicht unter Ausschöpfung aller finanziellen Ressourcen glaubwürdig an der Lösung ihrer Probleme arbeiten.

Ein ganz wichtiges Problem liegt auch in der Tatsache, dass die seit der Aufklärung entwickelte Form der nationalstaatlichen Demokratie, nicht in zufriedenstellender Weise auf die Willensbildung in einer erweiterten und vertieften europäischen Union übertragbar ist.

Das europäische Parlament hat sich in den letzten Jahren sehr positiv entwickelt und es gibt auch andere interessante Ideen, wie z.B. die Direktwahl des Präsidenten der Europäischen Union. Dennoch ist das Problem, dass eine europäische Demokratie diesen Namen nur dann wirklich verdient, wenn es auch eine gesamteuropäische politische Debatte von der Basis bis zur Spitze als Grundlage für transparente und demokratische Entscheidungen gibt, noch weitgehend ungelöst.

Um mich aber nicht überwiegend mit kritischen Entwicklungen, Sorgen und Problemen zu beschäftigen, möchte ich zur Abrundung feststellen, dass Europa derzeit nach außen vielleicht schwächer erscheint, als es tatsächlich ist. Europa verfügt nach wie vor über hervorragend ausgebildete Arbeitskräfte, hat eine leistungsstarke Infrastruktur, ist technologisch in vielen Bereichen führend und hat in seinen Mitgliedsstaaten politische Strukturen, um die uns trotz aller derzeitigen Probleme viele auf der Welt beneiden.

Europa hat eine Geschichte von mehr als 3000 Jahren. Es gibt ein europäisches Menschenbild, europäische Werte, eine europäische Kultur und einen europäischen Lebensstil. Die Zukunft Europas verlangt aus diesen Gegebenheiten Konsequenzen zu ziehen und nicht zuzulassen, dass das Rad der Zeit wieder zurück gedreht wird. Was der nächsten und auch der übernächsten Generation jedenfalls vermittelt und als Lehre aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts hinterlassen werden muss, ist Folgendes:

1. Die Erkenntnis, dass Krieg das Schlimmste ist, was Menschen einander antun können und dass Gewalt nicht geeignet ist, politische Probleme zu lösen.

2. Die Erkenntnis, dass in einer globalen und vernetzten Welt von mehr als 7 Milliarden Menschen Europa nur etwa 7 oder 8 % der Weltbevölkerung stellt (mit sinkender Tendenz), sodass das europäische Lebens- und Wirtschaftsmodell in Zukunft nur dann eine wichtige Rolle spielen wird, wenn es gelingt, nationalstaatliche Egoismen zu überwinden und ein friedliches, demokratisches und akzeptiertes Europäisches Projekt weiter zu entwickeln und zu festigen. Ob wir dieses Projekt dann als Bundesstaat oder als Staatenbund bezeichnen ist nicht von zentraler Bedeutung, weil das Europa der Zukunft eine Struktur haben wird, auf die keiner der beiden Begriffe aus der heutigen Staatslehre präzise zutreffen wird.

3. Die jetzt heranwachsende Generation wird darüber hinaus mit der Tatsache konfrontiert sein, dass wir uns in verstärktem Maße nicht nur mit der Zukunft Europas, sondern auch mit der Zukunft anderer Regionen beschäftigen müssen.

Das bedeutet, dass friedlicher Interessensausgleich, Verzicht auf Gewalt, faire ökonomische Zusammenarbeit, ökologische Nachhaltigkeit und die Unterstützung der Millenniumsziele der Vereinten Nationen beim Kampf gegen Hunger, gegen Analphabetismus, gegen Kindersterblichkeit und Seuchen, etc. globale Ziele sind, die zu den Bausteinen einer künftigen Weltgesellschaft gehören müssen.

Es besteht für mich kein Zweifel, dass Europa bei der Verwirklichung dieser Ziele eine Vorreiterrolle wahrnehmen kann und wahrnehmen muss; und dass wir in Zukunft auf unsere nationale Staatsbürgerschaft wie auf unsere europäische Staatsbürgerschaft in gleicher Weise stolz sein können. (Heinz Fischer, DER STANDARD, 28.8.2012)