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Bis zu 90 Dezibel laut kann der melodiöse Gesang von Nachtigall-Männchen sein. Dieses akustische Imponiergehabe dient dazu, Weibchen anzulocken.

Foto: APA/Birdlife International/Garth Peacock

Es ist kurz nach Mitternacht, und im Naturschutzgebiet herrscht Hochbetrieb. Die Luft vibriert vor Leben. Buchstäblich. Im Schilf ertönt das seltsame Schnarren eines Rohrschwirls. Von den Feuchtwiesen weht das vielstimmige Quaken der Frösche herüber, und nur wenige Schritte weiter gibt im Gebüsch ein Nachtigall-Männchen sein Bestes. Klar und melodisch zieht das Lied durch die Dunkelheit. Der Vogel ist allerdings nicht alleine. Sein Gesang wird aus der Ferne beantwortet.

Die Nachtigallen halten Kontakt zueinander, erklärt der Biologe Valentin Amrhein. "Das ist ein Kommunikationsnetz, welches über hunderte Meter hinweg funktioniert, ohne irgendwelche Verstärkung." Die weniger als handlangen Tiere sind in der Tat verblüffend laut. "90 Dezibel in einem Meter Entfernung, das verstößt ganz klar gegen die EU-Lärmschutzverordnung", sagt Amrhein lachend.

Für Frühaufsteher

Wenige Stunden später: Der Forscher bahnt sich mit etwas unausgeschlafener Miene einen Weg durch das Unterholz. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber Amrheins Mitarbeiter sind schon bei der Arbeit. Die jungen Männer haben zwischen Büschen und Röhricht mehrere Netze aufgestellt. Deren feines Maschenwerk ist für gefiederte Tiefflieger fast unsichtbar. Auch an diesem Morgen braucht das Team nicht lange zu warten. Eine Nachtigall hängt kopfüber im Netz und schaut verwirrt um sich. Vorsichtige Hände befreien das Tier. Es wird genau untersucht. Die Kloakenöffnung sticht nicht hervor, offenbar ein Weibchen.

Die Nachtigallendame bekommt einen Peilsender auf den Rücken geschnallt. Das Gerät stellt für den Vogel keine Behinderung dar, bestückte Tiere können sich problemlos paaren und brüten, erläutert Valentin Amrhein. Nach einigen Wochen fällt der Sender von selbst ab. Bis dahin jedoch können die Wissenschafter die Bewegungsmuster ihrer Studienobjekte per Telemetrie ziemlich präzise verfolgen.

Momentan interessiert den Experten unter anderem, wo genau die Nachtigallen nisten. Das tun sie nicht etwa auf Bäumen, sondern am Boden, berichtet Amrhein. Seinen Beobachtungen nach brüten die Vögel gerne in dichtem Brennnessel-Bewuchs, manchmal nur einen Meter vom Wegesrand entfernt. Deshalb sollten diese sogenannten Krautsäume bis zum Ende der Brutzeit im Juni nicht gemäht werden.

Noch viele Geheimnisse

Die Studien sind Teil eines langfristigen Forschungsprojektes, welches die Universität Basel hier im Naturreservat "Petite Camargue Alsacienne" just nördlich der französischen Grenze im Südelsass betreibt. Ein sehr vielseitiges Vorhaben, denn die wohl berühmteste Singvogel-Spezies der Welt hat noch eine Menge Geheimnisse. Warum zum Beispiel singen Nachtigall-Männchen nachts, wenn fast alle anderen heimischen Singvögel nur tagsüber trällern? Der Gesang dient vornehmlich zwei Zwecken: Weibchen anlocken und Territorialansprüche gegenüber der männlichen Konkurrenz kundtun. Die Forscher starteten einen Freilandversuch. Im April, wenn die Tiere aus Afrika zurückkehren, fingen sie anderswo Nachtigall-Weibchen ein, schnallten ihnen Sender auf den Rücken und setzten sie in der Petite Camargue wieder aus. Schnell zeigte sich, dass die weiblichen Neuankömmlinge fast ausschließlich nachts auf Partnersuche gingen. Sie besuchten dabei die Territorien mehrerer Männchen, bis ihnen eines gefiel.

Aktiv ab Mitternacht

Die Damen sind offenbar zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens aktiv. Genau zu dieser Zeit bringen auch Nachtigall-Junggesellen ihre intensivsten Lieder zu Gehör. Unverpaarte Männchen richten sich vermutlich nach dem Aktivitätsrhythmus des anderen Geschlechts, meint Amrhein. "Sie singen nachts, weil die Weibchen das so wollen." Die verpaarten Artgenossen zwitschern dagegen nur noch frühmorgens und den Tag hindurch. Zur Revierverteidigung.

Die Biologen wollten auch wissen, inwiefern solch akustisches Imponiergehabe eine dreidimensionale Komponente beinhaltet. Sie platzierten Lautsprecher in der Nähe von bevorzugten Nachtigall-Singwarten, entweder in derselben Höhe oder drei Meter darüber, spielten Gesänge ab, und nahmen die Antworten des Revierbesitzers auf. Man erwartete besonders aggressive Reaktionen bei abgespieltem Gesang, der von oben kommt.

Das schien logisch: Wer hoch und exponiert sitzt, mag vielleicht besser gehört werden, aber er dürfte gleichzeitig leichtere Beute für Greifvögel sein. Dementsprechend glaubten die Wissenschafter, dass rivalisierende Nachtigall-Männchen durch die Wahl einer hohen Singposition ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit Ausdruck verleihen, was für einen Revierinhaber eine größere Herausforderung bedeuten würde.

Singen zur Erkundung

Doch die Forscher fanden das Gegenteil. Bei den Playback-Versuchen reagierten die getäuschten Tiere am stärksten, wenn der simulierte Rivale in gleicher Höhe war. Befand sich der Lautsprecher aber drei Meter höher, dann neigten die Vögel weniger zu Kampfliedern. Eine mögliche Erklärung könnte das Verhalten von reviersuchenden Männchen sein, meint Amrhein. Solche umherziehenden Nachtigallen setzen sich manchmal auf hohe Äste und singen kurz, quasi zur Erkundung. Meldet sich daraufhin in diesem Revier ein männlicher Artgenosse, ziehen sie wohl meistens weiter - ohne Konfrontation. Für den Revierinhaber besteht in solchen Fällen kein Anlass zur Aufregung, er kann normal weitersingen.

Die Feinheiten des Gesangs sind den Tieren keinesfalls ins Nest gelegt. Sie müssen erlernt werden, und das ist wohl nicht einfach. Amrhein reiste Februar 2011 nach Ghana, in das Winterquartier der elsässischen Nachtigallen. Dieses hatte man mit speziellen Datenloggern aufgespürt.

In Ghana stieß Amrhein auf zahlreiche Nachtigallen, die dort in der Savanne überwintern. Und erstaunlicherweise hörte er sie auch singen. Allerdings nicht immer klar strukturiert und melodisch wie in Europa üblich, sondern oft eher ungehobelt, fast dilettantisch. Es könnte sich um Jungmännchen handeln, die den Gesang im Winterquartier üben, meint der Biologe. Bevor sie in unseren Breiten ihren ersten großen Auftritt haben. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 29.8.2012)