STANDARD: Was führt Menschen mit Behinderung in den Sport und in weiterer Folge in den Spitzensport?
Siegmund Linder: Das unterscheidet sich - nach meiner Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung - grundsätzlich nicht von den Zugängen Nichtbehinderter. Es geht um Kameradschaftlichkeit, persönlichen Ehrgeiz, um das Kennenlernen des eigenen Körpers, um gesellschaftliche Anerkennung. Es kommt aber noch eine Komponente dazu, auch wenn die nicht die wichtigste ist. Es geht oft auch um die Frage, was aus dem behinderten Körper noch alles herauszuholen ist. Das kennt man ja auch bei älteren Menschen, die eben ergründen wollen, was der alternde Körper noch zu leisten imstande ist, und die dann alles Mögliche vorhaben, wie et wa mit 55 oder 60 auf den Kilimandscharo zu kommen, um die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit zu ergründen. Aber im Prinzip soll man nicht zu viel hineininterpretieren, weil Menschen mit Behinderung doch genauso funktionieren wie wir alle.
STANDARD: Gilt für Behindertensportler besonders, dass ihre mentale Verfassung für den Erfolg ausschlaggebend ist?
Linder: Das ist vielleicht wichtiger als bei anderen Sportlern, die innere Einstellung, die mentale Kraft, der Ehrgeiz, der Wille dranzubleiben. Weil sie eben doch zeigen wollen, dass sie mit diesem Körper noch etwas leisten können. Ein wichtiger Punkt ist aber immer, dass wir das Bild, das wir uns von Menschen mit Behinderung machen, überprüfen sollten. Es ist oft nämlich nicht das Bild, das sie selber abgeben wollen.
STANDARD: Welche Bilder machen wir uns?
Linder: Sportler mit Behinderung erregen bei den Zusehern oft dieses fast ehrfürchtige Bewundern. Das kommt aus mehreren emotionalen Quellen. Auf der einen Seite merkt man, dass denen etwas ganz Schlimmes im Leben passiert ist, etwas Existenzielles. Da fragt man sich als Nichtbehinderter, ob man das selbst geschafft hätte, ob man damit leben könnte. Da spielt die Angst vor der Herausforderung, die diese Menschen offensichtlich zu meistern hatten oder haben, eine Rolle. Gleichzeitig kommt aber die Bewunderung dafür, wie toll sie damit umgehen. Und die entlastende Erkenntnis, dass man es vielleicht in derselben Situation auch schaffen könnte. Dieser Doppelpack an Emotionen spielt eine große Rolle. Das merkt man dann an Sportlern wie etwa Hermann Maier. Der war nach seinem schweren Motorradunfall ganz weit weg. In Nagano war es noch deutlicher. Da haut es ihn von der Piste, wenige Tage später gewinnt er ein Rennen. Da wird die Bewunderung noch viel größer. Diese doppelte Emotion macht die Leute zu Helden.
STANDARD: Der britische Fernsehsender, der die Paralympics überträgt, bewirbt sie mit dem Slogan "Meet the Superhumans". Ist das nicht wieder eine Ausgrenzung?
Linder: Ich finde das etwas ge fährlich. Es beinhaltet ja Widersprüchliches. Einerseits ist es ein großes Lob, andererseits bürdet man zu viel auf. Menschen mit Behinderung würde das durch die Bank nicht sehr freuen. Schließlich ist die Anstrengung, die sie aufbringen, um das Beste herauszuholen, dieselbe wie bei anderen Sportlern auch.
STANDARD: Verkörpert das nicht der Südafrikaner Oscar Pistorius perfekt? Er hat als Prothesenläufer an den Olympischen Spielen teilgenommen. Drei Wochen später ist er nun bei den Paralympics der große Star. Wie finden das Menschen mit Behinderung im Allgemeinen und die Behindertensportler?
Linder: Ich kann mir vorstellen, dass das wi dersprüchlich aufgenommen wird, überhaupt wenn es um Konkurrenz geht. Rein formal ist es ganz klar, dass der Mann wegen seiner Behinderung zu den Paralympics gehört, aber auch gegen einen Olympiastart nichts spricht, weil er keinen biophysikalischen Vorteil aus seinen Prothesen zieht. Eine Irritation ist Pistorius' Teilnahme aber ganz sicher.
STANDARD: Wären Sie dafür, die Paralympics in die Olympischen Spiele zu integrieren?
Linder: Ja, es stößt natürlich negativ auf, dass da die großen Olympischen Spiele sind und hintennach die Paralympics im Schatten der Aufmerksamkeit. Wenn man will, kann man das sicher integrieren. Die Menschen mit Behinderung selber sehen das als gleichwertig an. Um bei Chancengleichheit zu reüssieren, muss ich eine Spitzenleistung erbringen. Es wird bei Olympia in manchen Sportarten ja auch nach Gewichtsklassen unterschieden. Da könnte man genauso gut Behindertenklassen hin zufügen. Und die Olympischen Spiele dauern dann eben eine Woche länger.
STANDARD: So weit geht die Gleichstellung dann doch wieder nicht.
Linder: Da ist auf der einen Seite im Hinterkopf immer noch das Denken von den armen Hascherln. Und auf der anderen Seite steht die Anerkennung großer Leistungen, die auch stärker vermarktet werden könnten.
STANDARD: Spielen die Paralympics in Ihrer Arbeit eine Rolle?
Linder: Menschen in der Erstrehabilitation nach einem Unfall haben natürlich den Kopf in erster Linie bei der Verarbeitung ihrer Situation und der Wiederherstellung ihres Alltags. Aber es ist nicht so, dass die Paralympics gar keine Rolle spielen. Die Leute erzählen schon auch davon, dass sie die Leistungen, die dort erbracht werden, bewundern und Lebensmut und Kraft daraus schöpfen. (Sigi Lützow, DER STANDARD, 29.8.2012)